Selma van de Perre, geborene Velleman, erinnert sich noch sehr gut an den Moment der Befreiung. Sie stand damals, Ende April 1945, mit mehreren anderen Gefangenen vor dem Lagertor in Ravensbrück und wartete auf die Busse, die sie nach Malmö bringen sollten. Sie erzählt: »Aber dann kamen die Busse nicht. Der schwedische Soldat gab uns allen Zigaretten und sagte: ›Ihr geht besser wieder rein, ich glaube, sie kommen doch nicht so bald.‹ Wir sagten: ›Niemals! Und wenn wir hier die ganze Nacht stehen müssen.‹ Das taten wir – wir standen die ganze Nacht.«
Selma van de Perre ist am 20. Oktober dieses Jahres gestorben. Die Niederländerin wurde 103 Jahre alt. Ihr ganzes Leben lang hat sie Menschen vom Holocaust erzählt, von Lagern wie dem in Ravensbrück, oder davon, dass sie hier Margarete hieß, weil sie vor der Haft einen Tarnnamen angenommen hatte.
Andrea Genest, Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück, nennt Selma van de Perre eine »Freundin des Hauses«, und im Nachruf auf der Website des Museums steht, dass sie bis spät in die Nacht mit Schülern beisammen saß. Vermittlung war ihr ein Bedürfnis, und gerade die Details ihrer Geschichten brennen sich ein, wie jene der Befreiung: »Wir standen vor den Lagertoren und rauchten, und nicht weit davon war das Aufseherinnenhaus. Meine Aufseherin mit den roten Haaren stand in der Nähe eines Fensters, sie rief von oben aus dem ersten Stock herunter: ›Nicht rauchen, Marga! Nicht rauchen!‹ Und der Schwede sagte zu mir: ›Sie hat nichts mehr zu sagen. Sie können rauchen, so viel sie möchten.‹«
Erinnerung hat viele Formen
Erinnerung kann viele Formen annehmen – sie kann aufgeschrieben, gemalt, gesungen werden, sich in Gegenständen verstecken, oder sie wird erzählt und weitererzählt, von Generation zu Generation. Die mündliche Überlieferung ist wohl die ursprünglichste Form der Wissensweitergabe: eine der glaubwürdigsten, aber auch eine der fragilsten. Sie setzt voraus, dass jemand überlebt hat, um erzählen zu können.
Die Menschen, mit denen die Filmemacherin Loretta Walz in 207 Interviews gesprochen hat, haben alle den Holocaust überlebt: 191 Frauen und 16 Männer, darunter viele Jüdinnen und Juden. Ihre Gespräche bilden ein besonderes Videoarchiv. Fast 30 Jahre lang hat Walz diese Menschen getroffen und sich mit ihren grausamen Erinnerungen auseinandergesetzt.
»Du wirst überleben, und dann wirst du davon sprechen, was sie mit uns gemacht haben.«
Erna de Vries’ Mutter
Bis 1990 waren nur wenige Details aus der Lagerzeit in Ravensbrück bekannt. »Die meisten Wissenschaftler in der DDR konzentrierten sich auf Sachsenhausen oder Buchenwald«, sagt Genest. Nicht nur deshalb seien diese 800 Stunden Film »so ein Schatz«. Sie fügt an: »Es ist auch die hohe Qualität der Aufnahmen und die Intensität der Interviews.«
Loretta Walz Raum schafft eine Atmosphäre des Vertrauens
Einmal sitzen die Protagonisten in einem stillen Raum, ein anderes Mal laufen sie durch das ehemalige Lager. Doch immer lässt Loretta Walz Raum fürs Nachdenken, fürs Nachspüren – und schafft eine Atmosphäre des Vertrauens. So im Interview mit Walter Morgenbesser, der beinahe ungerührt von schrecklichsten Dingen erzählen kann, vom Hunger, vom Tod von Verwandten und von dem Moment, als sein 18-jähriger Bruder noch einmal aus dem Viehwaggon aussteigen darf, der ihn nach Auschwitz bringen sollte.
Zu weinen beginnt Morgenbesser erst dann, als er von der Nachbarin erzählt, die zu ihm kommt und sagt, sie schäme sich für ihre Landsleute. Da sitzt also dieser Mann mit über 80 Jahren und weint. Loretta Walz fragt, ob sie die Kamera ausschalten soll. Aber Morgenbesser sagt mit einem Lächeln zu den Tränen: »Ich habe erwartet, dass das kommt, ich träne aus. Wenn es läuft, dann läuft es.«
Menschen tränen aus
Immer wieder »tränen Menschen aus« in diesen Videos. Auch an Loretta Walz gehen die Geschichten nicht spurlos vorbei. Man hört ihr schweres Atmen, manchmal eine lange Pause, wenn die Grausamkeiten einander übertreffen: gequälte Kinder, Ratten unter Leichen, eitrige Wunden, Seife aus Menschenknochen. Walz lässt ihre Interviewpartner erzählen und ermutigt sie: »Erzähl gern weiter, du musst den Punkt setzen, wo du ihn setzen willst.«
Besonders schlimm sind die Erfahrungen von Noah Klieger aus dem Todesmarsch und den letzten Tagen in Auschwitz: »Da habe ich gelernt, dass Menschen im Laufen schlafen können, gelehnt an die Person, die vor ihnen läuft.« Er schildert, wie sie Suppe aus einem Motoröl-Fass gelöffelt haben; wie sie vor der Befreiung von Auschwitz die Leichenberge gar nicht mehr gesehen haben, weil das so normal für sie gewesen sei; wie die Befreier sich bei ihrem Anblick übergeben mussten. »Insgesamt ist es ein Wunder«, sagt Klieger, »dass wir überlebt haben.« Er ging 1948 nach Israel und hat Deutschen gegenüber, die älter waren als er, immer ein Misstrauen behalten.
Johanna Müller arbeitet seit Juni dieses Jahres in der Gedenkstätte Ravensbrück und beschäftigt sich fast ausschließlich mit diesen Aufnahmen. »Jedes Interview berührt mich anders«, sagt sie, »aber es gibt mir auch immer ein bisschen Hoffnung, weil man ja weiß, dass es Überlebende sind.« In den kommenden Monaten wird die 31-Jährige zusammen mit der Dr. Hildegard Hansche-Stiftung vor allem daran mitarbeiten, dass ein Medienraum in einem der ehemaligen SS-Wohnhäuser entsteht. Dort sollen die Videos für Besucher zugänglich gemacht werden.
Videos werden für Besucher zugänglich gemacht
Das Gelände des ehemaligen KZ Ravensbrück liegt am Rand eines Waldes. Wer es mit dem Zug erreicht, muss vom Bahnhof Fürstenberg rund 20 Minuten zu Fuß gehen – vorbei an Einfamilienhäusern, die wohl schon zu Kriegszeiten dort standen. Viele Überlebende berichten in den Videos, dass die Menschen, die in der Stadt wohnten, sehr wohl wussten, was im Lager geschah: Manche schauten weg, manche halfen, andere verspotteten die Gefangenen.
Diese Aufnahmen sind auch ein Versprechen: dass nichts vergessen wird.
Erna de Vries ist eine der jüdischen Frauen, die von Auschwitz nach Ravensbrück deportiert wurden. Sie ist für das Interview mit Loretta Walz zum ersten Mal wieder auf dieses Gelände gekommen. Die Aufnahmen mit ihr zeigen sie zu einem großen Teil draußen, umgeben von Bäumen und Ruinen an den ehemaligen Orten des Leids und der Zwangsarbeit. Es ist noch kalt und nass draußen, die beiden Frauen laufen über das Gelände, und immer wieder versucht die Überlebende, etwas wiederzuerkennen. Fast 60 Jahre sind zum Zeitpunkt des Interviews vergangen.
De Vries erinnert sich an den Moment, als sie ihre Mutter zum letzten Mal sah: Obwohl sie eigentlich in den Zug nach Ravensbrück steigen musste, ging sie noch einmal quer durchs Lager, um ihre Mutter zu suchen. Sie fand sie und verabschiedete sich. »Meine Mutter sagte mir damals etwas, das ich nicht vergessen werde, es klang wie eine Beschwörung: ›Du wirst überleben, und dann wirst du davon sprechen, was sie mit uns gemacht haben.‹« Erna de Vries weiß noch, wie unwirklich das in dieser Situation geklungen hat. »Aber meine Mutter hat felsenfest daran geglaubt.« Sie haben einander versprochen, sich nach der Verabschiedung nicht mehr umzudrehen. »Wir haben uns dann aber beide gleichzeitig umgedreht und noch einmal gewunken.«
Loretta Walzʼ Verdienst
Gedenkstättenleiterin Andrea Genest sagt, dass es viele Zeitzeugen gibt, die nie über ihre Erfahrungen gesprochen haben. Doch die, die es getan haben, und das ist auch Loretta Walzʼ Verdienst, konnten es in diesen Videos in einer würdevollen Umgebung tun. »Wir können anhand dieser Videos nicht nur erzählen, was passiert ist, sondern auch, wie man mit diesem Thema umgehen kann.« Deshalb sei es auch so wichtig, bei den Anfängen der Videos genau zuzuhören.
Das Band von Erna de Vries beginnt damit, dass die Zeitzeugin leise fragt: »Das Ding läuft jetzt?« Loretta Walz bestätigt, es laufe.
Diese Aufnahmen sind auch ein Versprechen: dass nichts vergessen wird. Auch dann nicht, wenn die Stimmen verstummt sind. Erna de Vries ist am 23. Oktober 2021 gestorben, zwei Tage nach ihrem 98. Geburtstag. Sie starb in Lathen, in Niedersachsen. Dort ist jetzt eine Grundschule nach ihr benannt.