Witold Lisowski ist ein Held. Er rettete während der Schoa einem jüdischen Jungen, Jozef Inwentarz, das Leben. Mit seiner Mutter Zofia und seinen Brüdern nahm er den Jungen, den alle Dudek nannten, in ihrem Haus in einem Vorort der polnischen Hauptstadt Warschau auf. Er versteckte und versorgte ihn. 1944 wurde Dudek von der Roten Armee befreit, nach dem Krieg wanderte er nach Palästina aus. 1994 ehrte die Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte »Yad Vashem« Witold und seine Mutter Zofia als »Gerechte unter den Völkern«.
Witold Lisowski ist einer von etwa 28.400 Menschen, die während der Schoa ihr Leben riskierten, um Juden zu retten. 36 von ihnen werden jetzt im Buch »Stärker als Angst« präsentiert, das am Dienstagabend in der Topographie des Terrors in Berlin vorgestellt wurde. Herausgeber des Bildbandes ist die Conference on Jewish Material Claims Against Germany (Claims Conference).
Zur Buchvorstellung war Witold Lisowski eigens nach Berlin gekommen. Er ist heute 93 Jahre alt – eine eindrucksvolle Erscheinung. Mit wachen Augen und fester Stimme sprach er an diesem Abend darüber, wie er zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder Lebensmittel in das Ghetto Ludwisin schmuggelte und seinen Jugendfreund Dudek mehrere Jahre lang in seinem Haus versteckte.
Tiefe Verbundenheit
»Mit Dudek verband mich alles. Wir haben direkt nebeneinander gewohnt.« Die Familien seien befreundet gewesen und durch die Idee des Aufbaus eines unabhängigen Polens verbunden. »Wir liebten Dudek. Er war ein toller Junge. Ein Junge, der dramatische Zeiten erlebt hat, bevor er zu uns kam.« Er erzählte auch von den Gefahren des Verstecks. Und – zum Buchtitel passend – ergänzte Witold Lisowski: »Stärker als die Angst ist das menschliche Herz.« Die enge Verbindung der beiden überdauerte die Zeit: »Ich habe Israel besucht. Und ich kann sagen, dass unsere Kinder die Idee der Freundschaft übernommen haben, sie führen sie fort.«
So war zu diesem besonderen Zeitzeugengespräch auch Eyal Tagar, der Enkel des geretteten Dudek Inwentarz, aus Tel Aviv angereist. »Diese Geschichte hat mich von klein auf begleitet«, erzählte er. »Es war wie seine Lebensmission, Zeugnis abzulegen«, erinnert er sich an seinen 1997 verstorbenen Großvater. Er habe nicht nur im Familienkreis, sondern auch regelmäßig in Schulklassen davon erzählt.
Als er als Enkel dann bei einem Besuch in Warschau zum ersten Mal mit Witold zusammentraf, sei sofort eine tiefe Verbundenheit zu spüren gewesen: »Wir waren so verbunden durch die Geschichte, dass wir wie Familienmitglieder waren und sind.« Am Ende des Gesprächs umarmen sich beide innig.
Im Buch ist Witold Lisowski in stolzer Pose abgebildet – in der blauen Uniform eines polnischen Generals. Er wurde, wie die anderen Gerechten aus neun Ländern, von dem in Berlin lebenden israelischen Fotografen Benjamin Reich porträtiert.
Es sind eindrucksvolle Bilder und bewegende Geschichten von Männern und Frauen, die mehr als 220 Jüdinnen und Juden vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und ihre Verbündeten gerettet haben.
Malgorzata Quinkenstein ist Mitautorin des Buches. Sie sagte, dass sie das »Heldentum des Alltags« zeigen wollten. Es seien alles sehr besondere, in anderer Hinsicht jedoch auch sehr normale Menschen. »Und jeder hatte seinen eigenen Grund, warum er das tat. Doch wenn es etwas gibt, was sie alle verbindet, ist es die Menschlichkeit.«
Diese wollte Benjamin Reich in seinen Bildern einfangen. Er habe versucht, eine heimische Atmosphäre zu schaffen, »ohne Blitz, immer nur mit natürlichem Licht«, erzählte der Fotograf. »Wenn die Betrachter die Bilder sehen, werden sie auch das Gefühl der Menschlichkeit haben.«
Beide berichteten, dass es schwergefallen sei, von den heute noch etwa 150 lebenden Gerechten 36 auszuwählen. Diese Zahl, so erläuterte Reich, sei dem Talmud entnommen, in dem im Traktat Sanhedrin die 36 Zaddikim erwähnt werden, die in jeder Generation leben.
Toleranz, Respekt und Empathie
Greg Schneider, Vizepräsident der Claims Conference, ist Initiator dieses Projekts. Er sagte, dass das Beispiel der in »Stärker als Angst« porträtierten Gerechten zeige, »dass Mut nicht die Abwesenheit von Angst ist, sondern die Fähigkeit, trotz dieser Angst zu handeln«. Es sei wichtig, nicht nur diese beispiellosen Taten des Mutes in Erinnerung zu behalten, sondern die Geschichten auch an zukünftige Generationen weiterzugeben.
Aus diesem Grund habe sich die Claims Conference seit ihrer Gründung im Jahr 1951 der Erinnerung an die Gerechten verschrieben. »Wir pflegen ein kollektives Bewusstsein, das uns hilft, die Gefahren von Gleichgültigkeit und Hass zu verstehen. Durch ihr Beispiel können wir jungen Menschen die Bedeutung von Toleranz, Respekt und Empathie vermitteln.«
Er hoffe, dass das Buch zu einem wertvollen Instrument in der Holocaust-Bildung werde. Es zeige, dass jeder Einzelne die Macht hat, etwas zu bewirken – unabhängig von Alter oder Umständen, so Schneider. »Indem wir das Andenken an die Gerechten ehren, inspirieren wir eine neue Generation, die Werte Mut, Menschlichkeit und Solidarität hochzuhalten. Das ist heute notwendiger denn je.