Vielleicht beginnt man bei der »spray paint«, der Sprühfarbe. Ende der 70er-Jahre wurde die erstmals in einem künstlerischen Kontext groß und als elementarer Bestandteil von Graffiti weltbekannt. Etwa zu dieser Zeit muss auch Louise Nevelson die mit Aerosolen versetzten Farbdosen für sich entdeckt haben. Simpler Wellkarton dient ihr als Bilduntergrund, darauf lassen sich lose geometrische Formen erahnen, mit Sprühfarbe abgenommen und anschließend wieder entfernt. Farbe, Karton, Formen: Daraus entstehen bei Nevelson beiläufig ganze Bildwelten. Viele sehen heute ultra-zeitgenössisch aus.
Ende 70, Anfang 80 war die Künstlerin da schon und als Bildhauerin sehr erfolgreich. Das Museum Wiesbaden rückt jetzt mit Louise Nevelson. Poesie des Suchens vor allem die kleinformatigeren Arbeiten in den Fokus. Bilder mit Sprühfarbe, Collagen, Assemblagen, dazu einige der berühmten dreidimensionalen Skulpturen und Wandreliefs.
Wie stark die US-amerikanische Nachkriegsmoderne von Einwanderern wie auch deren Kindern geprägt war, und hier in besonderem Maße wohl von osteuropäisch-jüdischen, lässt sich exemplarisch bei Nevelson nachvollziehen.
1899 wurde Louise Nevelson als Leah Berliawsky im russischen Kaiserreich geboren.
1899 als Leah Berliawsky im damaligen russischen Kaiserreich geboren, flieht ihre jüdisch-orthodoxe Familie vor antisemitischen Pogromen und politischer Verfolgung nach Amerika. In den Vereinigten Staaten erfindet sie sich nicht nur namenstechnisch neu (während zu Hause nach wie vor Jiddisch gesprochen wird).
Als junge Frau zieht Louise Nevelson aus dem beschaulichen Maine in ihre Wunschheimat New York. Hier findet sie alles, was sie für ihre künstlerische Praxis braucht. Wo gab es seinerzeit im urbanen Gebiet schon größere Schätze zu heben als in Manhattan?
Streifzüge durch Manhattan
Auf ihren Streifzügen durch die Metropole sucht Nevelson zusammen, woraus später ihre Kunst entstehen wird. Die Ausgangsmaterialien sind im besten Sinne arm, schlicht und übrig geblieben. Holz, Karton, Papier, Möbel- und Verpackungsreste finden den Weg in ihren Fundus. Ein Überschwang an Dingen, dem die Künstlerin zumindest ambivalent gegenüberstand. »Gegenstände, die man sammelt, haben Schwingungen, und sie können einen vereinnahmen. Deshalb mochte ich es nicht immer, Dinge um mich herum zu haben«, wird sie 1976 zitiert. Aber sie liebe es, jene anzuhäufen: »Künstler sind geborene Sammler.«
Louise Nevelson bringt die Dinge in eine neue Ordnung. Streng monochrom färbt sie jeden einzelnen Gegenstand ein, der später Teil eines Reliefs oder einer Skulptur wird; oft in Schwarz, manchmal in Gold oder Weiß. Frei von Farbunterschieden, Schrift oder Material rückt allein die Form in den Fokus.
Die geballte Energie, die den angehäuften Dingen innewohnt, wird dadurch aber nicht ausgelöscht. In ihrer konzentrierten Anordnung erscheinen die einzelnen Elemente umso kribbeliger, auch durch ihre nun hervortretenden Zwischenräume: Schatten und Abwesenheit werden zum bildhauerisch geformten Raum. Und die neuen Ordnungssysteme, die die New Yorkerin da geschaffen hat, bergen noch das Chaos in sich, das sie im selben Moment künstlerisch einzuhegen angetreten sind.
Schatten und Abwesenheit werden zum bildhauerisch geformten Raum.
Nevelson verstand sich als die Bildhauerin, die sie schon als junges Mädchen werden wollte. Ihre kleinen Formate, die seltener ausgestellten Collagen, Assemblagen oder eben Spray-Bilder stehen dem in nichts nach. Keine Materialstudien sind das, sondern fantastische Arbeiten, die auf wenigen Quadratzentimetern Nevelsons ganze künstlerische Schlagkraft bezeugen. Man muss sie im dreidimensionalen Raum sehen, mit ihrer ganzen Haptik, den unterschiedlichen Texturen und Oberflächen, absolut unaufdringlich groß.
Ilse Leda, Friedrich Vordemberge-Gildewart und die Geometrie
Vor allem archivarisch nachvollziehen lässt sich das Werk einer weiteren Künstlerin eine Etage weiter oben: Hier zeigt das Museum die Schau Körpergeometrie. Ilse Leda und Friedrich Vordemberge-Gildewart über das Künstlerpaar, das sich 1925 im dadaistisch geprägten Hannover kennenlernte.
Neben dem gezielten Unsinn spielte wie auch bei Nevelson die Geometrie eine zentrale Rolle: Vordemberge-Gildewart (1899–1962) gehörte mit seinen abstrakten Malereien, teils um dreidimensionale Objekte ergänzt, zur ungegenständlichen Avantgarde, während Leda (1906–1981) als Tänzerin, Tanzpädagogin und Choreografin neue Ausdrucksformen suchte. Fotografien zeigen sie mit anderen Tänzerinnen zum Quadrat formiert. »Die erste jüdische Tanzgruppe«, titelte selbstbewusst ein Plakat, das zum Tanzabend mit Ledas Ensemble einlud.
Noch am 29. April 1936 berichteten die »Jüdische Rundschau« und die »Jüdische Allgemeine Zeitung« über eine Aufführung in Berlin. Wenig später hatte sich die Stimmung im Land massiv verschärft. In den Niederlanden fand das Paar Asyl. Auch zum Schutz nahm Ilse Leda den Namen Vordemberge-Gildewart an. Nach dem Tod ihres Mannes gründete sie das Vordemberge-Gildewart-Stipendium zur Förderung jünger Künstlerinnen und Künstler. Es ist bis heute aktiv – die diesjährigen Stipendiaten sind direkt neben der Ausstellung zum Künstlerpaar zu entdecken.
»Louise Nevelson. Poesie des Suchens« ist bis 15. März 2026 zu sehen.