Kulturkolumne

Sprachnachrichten als Zeitzeugnisse

Regina Steinitz Foto: Regina Steinitz

Kulturkolumne

Sprachnachrichten als Zeitzeugnisse

WhatsApps auf Jiddisch von Regina Steinitz aus Israel

von Maria Ossowski  23.01.2025 15:13 Uhr

»Altz in Einem iz Nischtu bei Keinem.« Diese tröstende jiddische Weisheit hat mir kürzlich eine Freundin hinterlassen, deren Nachrichten akustische Schätze meiner Mailbox wurden. Regina ist ein deutsch-israelisches Gesamtkunstwerk, ein alt-junges Wunder.

Sie zitiert gern Goethe, Schiller und Heine, verschickt aber auch TikTok-Memes per WhatsApp. Artikel der »Jüdischen Allgemeinen« liest sie online gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Ruth, beide in Rollstühlen sitzend, am Strand von Tel Aviv. Hin und wieder singen sie gern im Duett »Am Brunnen vor dem Tore«, zur Not via Telefon.

Typische doppelte Verneinung im Jiddischen

Ginchen, wie wir alle sie nennen, spricht neben Hebräisch und Englisch ihre Muttersprache mit leichtem Berliner Dialekt (sie isst also Kürschkuchen am Tüsch) und verschickt als 94-Jährige Sprachnachrichten mit Ewigkeitswert: »Altz in Einem iz Nischtu bei Keinem.« Die deutsche Übersetzung klingt trocken und banal: »Niemand kann alles haben.« Gerade die typische doppelte Verneinung im Jiddischen macht diese Erkenntnis charmant und zur Maxime eines Jahrhundertlebens.

»Altz in Einem iz Nischtu bei Keinem.« Die deutsche Übersetzung klingt trocken und banal: »Niemand kann alles haben.«

Regina Steinitz wuchs im Berliner Scheunenviertel auf. Sie und ihre Schwester, Rudele genannt, galten in den 30er-Jahren als die bildhübschen »Püppchen aus der Auguststraße«– so auch der Titel einer rbb-Doku. Ein Onkel befreite sie kurz vor der Deportation aus den Fängen der Gestapo, sie tauchten unter, wanderten 1948 nach Israel aus, Regina und ihr Mann Zvi bauten den Kibbuz Netzer Sereni mit auf und gründeten eine Familie. Regina arbeitete als Krankenschwester (und pflegte, da höchst musikinteressiert, zeitweise die Cellistin Jacqueline du Pré). Ihrem Mann, der Auschwitz und Buchenwald überlebt hatte, empfahl Regina in späten Jahren, als Erinnerungen ihn in Depressionen trieben, »Amcha«, die psychologische Betreuung für Opfer der Schoa.

Gemeinsam reisten die Schwestern oft nach Berlin, wo wir uns an einem denkwürdigen Nachmittag in ihrem Hotelzimmer kennenlernten. Statt eines Interviews mit den Zwillingen hockten wir zu dritt auf dem Bett und sangen aus voller Kehle jene Volkslieder, die beide seit der Jüdischen Mädchenschule auswendig kannten. »Ännchen von Tharau«, »Der Mai ist gekommen« und »Sah ein Knab ein Röslein stehn«. Ginchen gehört fortan zu unserem Leben. Wir besuchten sie bis zum Krieg oft in Ramat Gan, aßen am Strand, diskutierten das Leben im Allgemeinen und die Lage Israels im Besonderen.

»Es ist wie früher. Ich muss mich schnell verstecken vor den Bomben«

Ginchens Sprachnachrichten nach dem 7. Oktober 2023 sind Zeitzeugnisse. »Es ist wie früher. Ich muss mich schnell verstecken vor den Bomben, in Berlin jedoch war ich jung und konnte schnell laufen. Jetzt mit diesem Dings, das Räder hat, wie heißt das bei euch? Rollator? Damit brauchʼ ich ewig bis zum Bunker. Nu, ich hab’s damals überlebt, ich werde es jetzt überleben. Nur die armen jungen Menschen, die Kinder, die Geiseln, unsere Soldaten, sie tun mir so leid …«

Sie liebt das Leben, trotz der Kriege, der Verluste, der Bedrohungen und trotz des hohen Alters, das seine Tribute fordert. Für sie gilt »Altz in Einem iz Nischtu bei Keinem«, eine Wahrheit, die Kurt Tucholsky in seinem »Ideal« von 1927 poetisch passend geprägt hat: »Etwas ist immer. Tröste dich. Jedes Glück hat einen kleinen Stich. Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten. Daß einer alles hat – das ist selten.«

Andrea Kiewel

»Sollen die Israelis sich abschlachten lassen?«

Die »Fernsehgarten«-Moderatorin äußert sich im »Zeit«-Magazin erneut deutlich politisch zu ihrer Wahlheimat

 07.07.2025

Kino

Weltweit ein Kultfilm - doch hierzulande fast unbekannt

Eines der erfolgreichsten Film-Musicals überhaupt lockt viele Touristen nach Salzburg – doch im deutschsprachigen Raum ist der jetzt 60 Jahre alte Kultfilm »The Sound of Music« kaum bekannt

von Gregor Tholl  07.07.2025

Judenhass

Zwei Verfahren gegen Xavier Naidoo anhängig

Der Sänger plant ein Comeback. Dass er sich vor Jahren in Verschwörungserzählungen »verrannt« hat, bereut er. Für die Justiz ist das Ganze damit aber noch nicht erledigt. Es geht um »Inhalte mit antisemitischem Charakter«

 07.07.2025

Geburtstag

Mit dem Cello in Auschwitz: Anita Lasker-Wallfisch wird 100

Sie überlebte die Schoa als »Cellistin von Auschwitz« und ist eine der bekanntesten Zeitzeuginnen: Anita Lasker-Wallfisch. Mit einem besonderen Geburtstag triumphiert sie nun über den Vernichtungswahn der Nazis

von Leticia Witte  07.07.2025

Kino

Jüdischer Superman fliegt los

David Corenswet rettet die Welt. Der Kinostart rückt immer näher. Seit 1938 haben mehrere Juden entscheidend zum Erfolg des fliegenden Helden beigetragen

von Imanuel Marcus  07.07.2025

«Stimme der verstummten Millionen»

Anita Lasker-Wallfisch blickt ernüchtert auf die Welt

Sie gehörte dem Mädchen-Orchester von Auschwitz an, überlebte das Lager und später das KZ Bergen-Belsen. Am 17. Juli wird die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch 100. Und ist verzweifelt angesichts von Antisemitismus, Rechtsruck und Krieg, sagt ihre Tochter

von Karen Miether  07.07.2025 Aktualisiert

Biografie

Autogramme, die die Welt bedeuteten

Wie die Fußballleidenschaft von Tom Tugend das Leben des jüdischen Journalisten prägte

von Martin Krauß  06.07.2025

Britische Band »Oi Va Voi«

»Das schlagende Herz des Albums«

Die Musiker haben den Song »Dance Again« in ihrem neuen Album den Opfern des Nova-Festivals gewidmet. Ein Gespräch über Mitgefühl, Hoffnung und die Wut nach Konzertabsagen

von Katrin Richter  06.07.2025

Aufgegabelt

Melonensalat mit gebackenem Halloumi

Rezepte und Leckeres

 06.07.2025