Ritual

Später Einschnitt

Es piekst ein paar Mal, dann schneidet die Klinge einmal im Kreis. Foto: imago

Bist du religiös? Auf diese Frage kann ich bis heute keine schnelle Antwort geben, obwohl sie mir schon oft gestellt wurde. Sie erinnert mich an eine andere Frage aus einer anderen Zeit: Bist du für den Frieden? Die Antwort darauf musste auf jeden Fall Ja sein, sonst hatte es (in der DDR, wo ich aufgewachsen bin) unangenehme Folgen – so wie ein heutiges Ja auf die Frage nach der Religiosität, weil du sofort für einen Spinner gehalten wirst.

fragen Jüdische Jungen werden acht Tage nach der Geburt beschnitten. Bei mir war das nicht der Fall. Mutter hat mir Widersprüchliches hinterlassen. »Mit Vorhaut bist du kein Jude. Und doch haben wir dich nicht beschneiden lassen, es war nicht nötig, du fällst in Deutschland nur auf, du hast keine Phimose. Und immer schön waschen.« Dabei entfachte sie meinen Neid. »Bei deinem älteren Bruder haben wir es in England noch gemacht.«

Kann ich die Brit Mila jetzt, 55 Jahre später, nachholen?, habe ich vor einiger Zeit den Rabbiner gefragt. Eines Tages klingelt das Telefon. Es ist der Rabbi. »Du kannst den Mohel kennenlernen«, sagt er und nennt eine Adresse. Ich fahre hin. Ein kleiner Herr mit Brille steht vor mir. Er scheint ständig beschäftigt, sodass ich mich nicht traue, ihn mit meinen Fragen über das Beschneidungsritual zu überschütten. Die Liege in dem kargen Büro, wo wir uns treffen, ist noch warm von einem anderen Körper.

»Bist du Jude?«, fragt der Mohel. »Kannst du es beweisen?« »Hast du eine jüdische Mutter?« »Hast du Papiere?«. Ich hole Luft, stammele etwas von meiner Großmutter. Schließlich bürgt der Rabbiner auf Nachfrage für mich, und der Mohel scheint beruhigt. Als ich wieder zum Fragen ansetze, nickt er zur Liege rüber. »Gleich, wenn du willst!« Er hebt einen Finger, legt mit der anderen Hand Daumen und Zeigefinger als Ring herum und deutet an, wo er schneiden wird. Ich lehne dankend ab. Für den Tag reicht es mir, ich brauche etwas Zeit.

werkzeug Ein paar Tage später ruft der Mohel mich auf dem Handy an. Jetzt bin ich bereit. »Hol mich ab«, sagt er. Ich fahre zu einem wunderbaren alten Berliner Hotel. Er kommt heraus mit zwei großen, schweren Koffern, darin seine Werkzeuge. Wir nehmen ein Taxi zu dem Büro. Der Mohel verlangt nach einem Ventilator, dann soll ich rausgehen. Mein Herz beginnt zu klopfen. Er ruft wieder nach mir. Ich gehe hinein, lasse die Hose runter. »Soll ich die Schuhe auch ausziehen?«, frage ich. »Wenn du dir deine Füße nicht länger als vor zwei Jahren das letzte Mal gewaschen hast«, antwortet er prompt.

Auf der Liege hyperventiliere ich, schaue an die Zimmerdecke, spüre, wie um meinen Erzeugerundspaßundwasserlasser eine Art Rüstung gebaut wird. Es piekst ein paar Mal, dann schneidet die Klinge einmal im Kreis. »Das war’s schon. Der Rest ist Routine«, sagt der Mohel und gibt mir den Rat, ruhiger zu atmen. Nun kommt ein summender Apparat. Ich hebe den Kopf, um der Sache ins Auge zu blicken. Doch der russische Assistent mit dem melancholischen Lächeln, der immer wieder »Challes in Oorrdnung« sagt, drückt mich herunter. So sehe ich nur, wie eine Nadel mit Faden sich auf und ab bewegt, viele Male, einmal ringsherum.

Wir sind fertig. »Ich spreche jetzt zwei Mal den Segen, du antwortest mit Amen«, sagt der Mohel. Endlich laufen mir die Tränen. Ich fühle mich Gott nahe. Als ich dem Mohel danken will, sagt er:»Du hast eine große Mizwe vollbracht. Jetzt hast du bei Haschem einen Wunsch frei.«

André Herzberg war Frontmann der DDR-Rockgruppe »Pankow«. Er lebt als Musiker und Autor in Berlin.

ESC

Yuval Raphael: »Bin hier, um Hoffnung zu bringen«

Trotz Boykottaufrufen bleibt Israels Kandidatin für den Wettbewerb optimistisch: Mit ihrem Song »New Day Will Rise« will sie ein Zeichen für Hoffnung und Zusammenhalt setzen

 13.05.2025

Antisemitismus

Kanye Wests Hitler-Song »WW3« ist Hit auf Spotify

Der Text ist voller Hitler-Verehrung, gleichzeitig behauptet der Musiker, er könne kein Antisemit sein, weil er schwarz sei

 12.05.2025

Berlin

Ruth Ur wird neue Direktorin der Stiftung Exilmuseum in Berlin

In Berlin soll ein Museum über die Menschen entstehen, die vor den Nazis ins Exil flohen. Die Stiftung, die das Vorhaben vorantreibt, bekommt nun eine neue Direktorin

von Alexander Riedel  12.05.2025

Kulturpolitik

Kulturrat berät künftig zu Antisemitismus

Ziel sei es, Handlungssicherheit innerhalb des Kulturbereichs zu gewinnen

 12.05.2025

Tschechien

Holocaust-Museum in ehemaliger Schindler-Fabrik eröffnet

Der Unternehmer Oskar Schindler rettete viele Juden vor den Nazis. Seine Rüstungsfabrik verlegte er 1944 von Krakau nach Brnenec im heutigen Tschechien. Nun ist dort ein Museum eröffnet worden

 12.05.2025

Basel

Drohgebärde bei ESC-Eröffnung – Kan erstattet Anzeige

Der Sender Kan veröffentlichte ein Video, auf dem ein Mann mit palästinensischer Flagge zu sehen ist, der sich mit seiner Hand waagerecht über den Hals fährt

 11.05.2025

Berlin

»Es gibt Momente, die sind größer als der Preis«

Die Verleihung des Deutschen Filmpreises war geprägt von politischen Statements – und von der Nachricht vom Tod Margot Friedländers. Und ganz nebenbei war »September 5« der große Gewinner des Abends

von Sabrina Szameitat  11.05.2025

Ruth Achlama

»Alles ist schön und gut? Das wäre gelogen«

Die Übersetzerin über Beziehungsratschläge für Deutsche und Israelis, israelische Autoren auf dem deutschen Buchmarkt und Erzählungen von Chaim Nachman Bialik

von Ayala Goldmann  11.05.2025

Meinung

Codewort: Heuchelei

Nemo fordert den Ausschluss Israels beim ESC in Basel. Damit schadet der Sieger des vergangenen Jahres der Schweiz und der eigenen Community

von Nicole Dreyfus  11.05.2025