Im Jahre 2011 wagte ich das eigentlich Undenkbare: Ich überredete meinen Mann, mich, die verschämte und bei jedem Blick auf den Bayreuther Balkon sich noch mehr schämende Wagner-Wahnsinnige, zu den Festspielen zu begleiten. Wagner-Wahnsinnige? Ja, denn ich bin verrückt nach musikalischen Wagner-Rauschzuständen, aber niemals Wagnerianerin.
Zwar singe ich Sieglinde oder Senta nachts zur Not auch rückwärts und ändere grundsätzlich meinen Aggregatzustand von fest in flüssig während der Tannhäuser-Ouvertüre, auch würde ich gern beim ersten Tristanakkord nicht mehr atmen bis zur Auflösung sechs Stunden später, aber sämtliche verquasten Texte und Ideologien des Komponisten sind mir noch unangenehmer als die Lobhudeleien seiner Anhänger.
Zurück zu 2011. Auf dem Grünen Hügel werden die »Meistersinger« aufgeführt, wir sitzen mittendrin im ausverkauften Festspielhaus, um uns herum ausschließlich der Typ Hundert-Prozent-Wagnerianer, gern aus Frankreich oder den USA, dort gibt’s sie zuhauf. Auf der Bühne eine kluge Inszenierung der Urenkelin Katharina Wagner, radikal politisch mit Bücherverbrennung und unterhaltsam mit regnenden Turnschuhen.
Jedoch in der Schusterstubenszene 3. Aufzug, wenn Hans Sachs angelegentlich eine Stunde lang übers Leben, die Liebe und die Kunst philosophiert, passiert egal in welcher Inszenierung währenddessen: nichts. Meist versteht man auch nichts, es sei denn, man singt im Kopf mit, weil man wie ich ein bisschen meschugge ist.
Mein Mann, ernsthaft besorgt um unser Liebesglück, sah nur eine Chance ...
Mein Mann aber, beruflich Fernsehredakteur, weiß um die kurzen Aufmerksamkeitsspannen der Zuschauer. Sie stehen in reziproker Korrelation zur Wagnerʼschen Gesamtkunstwerksidee. Und so begann er, zehn Minuten nach Beginn des Sachs-Monologs, mit Zeige- und Mittelfinger die Geste einer Schere zu markieren. Bitte schneiden, bitte schneiden. Erst diskret, sodass ich sie ignorieren konnte. Dann raumgreifender, was mir hochnotpeinlich war, also ignorierte ich hartnäckiger. Eine fatale Entscheidung. Der Herr im Smoking neben mir – kenne ich den überhaupt? – beugte sich schließlich herüber und flüsterte mir so laut wie deutlich ins Ohr: »Liebste, das kann man kürzen!« Die spezielle Akustik des hölzernen Saales trug sein gewispertes Votum bis hoch in die letzten Logen. Ein kurzes, empörtes Zischen folgte.
Leider sind die Sitze so eng und schmal, dass ich selbst mit wesentlich schlankerer Figur als heute nie daruntergepasst hätte. So musste ich noch anderthalb Stunden ausharren, bis bereits während des Schlussapplauses eine orchestrierte Schimpfkanonade auf uns niederprasselte, die sich zum Wutorkan steigerte, als wir versuchten, uns durch die Reihen empörter Wagnerianer Richtung Garderobe zu retten. Lediglich meinem diplomatisch gemurmelten: »Der Herr ist zum ersten Mal hier gewesen, sorry, unfortunately heʼs not a Wagner addict« verdanken wir, der Lynchlust des Publikums entkommen zu sein.
Mein Mann, ernsthaft besorgt um unser Liebesglück, sah nur eine Chance, die Trennung zu verhindern: Er versprach, mich ab jetzt jedes Jahr nach Bayreuth zu begleiten. So geschah es. Mittlerweile hat er Barrie Koskys hochintelligente »Meistersinger« im Nürnberger Gerichtssaal dreimal gesehen, ebenso oft Kratzers zauberhaften »Tannhäuser«. Dieses Jahr hat der Musical-Regisseur Matthias Davids die »Meistersinger« inszeniert, ziemlich bunt, aber komplett konturlos, und während der Schusterstubenszene musste ich nach 14 Jahren endlich dem Mann an meiner Seite recht geben: »Das kann man kürzen.«