Wikipedia

Sichter des Schabbat

Wer etwas wissen will, geht oft zuerst ins Internet. Und dort kommt man an der großen, nicht-kommerziellen Online-Enzyklopädie Wikipedia kaum vorbei. Seit ihrer Gründung vor rund 15 Jahren gehört die Homepage mittlerweile zu den zehn meistbesuchten Seiten der Welt – und somit zu den einflussreichsten Meinungsmachern im Netz.

Das betrifft auch jüdische Themen. Bei der Google-Suche nach dem Eintrag »Judentum« etwa steht der entsprechende Wikipedia-Artikel ganz oben auf der Trefferliste, ebenso die Beiträge über »Jüdische Speisegesetze«, »Israel« und »Holocaust«. Die einzelnen Artikel sind oft sehr ausführlich und erreichen eine große Leserschaft. Der Text zum Judentum beispielsweise wurde innerhalb der vergangenen zwölf Monate mehr als 430.000-mal aufgerufen.

aufklärung Wer aber verfasst diese wichtigen Inhalte? Am Artikel zum Judentum haben laut öffentlich einsehbarer Historie im Laufe der Zeit 195 Leute mitgeschrieben. Sie sind Teil der sogenannten Wikipedia-»Crowd« – der digitalen Gemeinde, die die Inhalte weiterentwickelt. Einer der regelmäßigen Autoren nennt sich in seinem Wikipedia-Profil »Hardenacke«. Wie viele Wikipedianer möchte er anonym bleiben.

Seit 2004 hat er an 20.000 Artikeln mitgewirkt, davon circa 500 zu jüdischen Themen. Sein Schwerpunkt sind Juden aus dem deutschsprachigen Raum. »Der große Beitrag jüdischer Personen zu unserer Kultur wird leider oft vergessen und unterschätzt«, sagt Hardenacke zu seiner Motivation. »Das ist angesichts der deutschen und europäischen Geschichte ein korrekturwürdiger Zustand.«

Ein anderer schreibt unter dem Pseudonym »VerfassungsSchützer«. Er hat in der Vergangenheit an verschiedenen Artikeln über Rabbiner, israelische Politiker und zerstörte Synagogen mitgewirkt. »Die Erstellung dieser Artikel fand ich wichtig, um das Ausmaß nationalsozialistischer, antihumaner Verbrechen und – in diesem speziellen Fall – Kulturschändungen deutlicher, nachvollziehbarer, ›greifbarer‹ werden zu lassen«, so der Autor. Durch seine Texte über Rabbiner und Israelis habe er etwas mehr jüdische Kultur in die deutsche Wikipedia einbringen wollen.

freischalten An Wikipedia mitwirken darf theoretisch jeder. In der Praxis gibt es jedoch eine komplizierte Hierarchie. Eine veränderte Textpassage oder ein ganz neu erstellter Eintrag wird erst dann öffentlich sichtbar, wenn der Artikel von einem Wikipedia-Nutzer mit dem Status eines »Sichters« freigeschaltet wird. Sichter kann jeder werden, der eine Mindestzahl an erfolgreichen Bearbeitungen vorweisen kann. Zudem sind besonders umkämpfte Wikipedia-Einträge technisch »geschützt« und können nicht von unangemeldeten oder neuen Nutzern verändert werden. Das betrifft viele Artikel zu religiösen Themen, beispielsweise den zum Schabbat.

Streit um Inhalte gibt es oft. Und immer wieder werden sie auch sehr persönlich ausgetragen. Das führt gelegentlich auch dazu, dass verdiente Autoren die Lust an einer weiteren Mitarbeit verlieren. Der Publizist Michael Kühntopf etwa war lange bei Wikipedia aktiv. Vor fünf Jahren schmiss er hin und gründete das Portal Jewiki.net, die nach Eigenangaben »größte Online-Enzyklopädie zum Judentum«. Viele ursprünglich für Wikipedia verfasste Artikel kopierte er einfach, was deren Lizenzregeln ausdrücklich erlauben. Heute umfasst Jewiki rund 86.000 Artikel.

Kühntopf war auch ein wichtiger Akteur der noch immer schwelenden »Kreuz-Debatte«. Seit Jahren wird diskutiert, ob in Biografien historischer jüdischer Persönlichkeiten ein Kreuz das Sterbedatum markieren muss – oder ob das eine Zumutung für Juden ist. Lange war das Kreuz obligatorisch, bis einige Nutzer dagegen Sturm liefen. Heute darf man das »rein genealogische Zeichen«, wie es gern heißt, weglassen und »gest.« oder »gestorben« schreiben.

diskussionen Zufrieden ist Wikipedia-Autor Hardenacke mit diesem Status quo nicht, er kann aber damit leben. Er beklagt jedoch, dass es vor allem in den Diskussionen auf Wikipedia immer wieder Antisemitismus gibt. In einem Streit über das Kreuz-Symbol hatte ihm zum Beispiel jemand entgegengehalten, dass nicht jeder mit Sonderwünschen kommen könne und Juden nun einmal nur 0,24 Prozent der Bevölkerung ausmachten.

So etwas von einem Deutschen geäußert, sei angesichts der Schoa unerträglich, findet Hardenacke. Und immer wieder werde das alte, stereotype Argument bemüht, dass Juden am Antisemitismus selbst schuld seien. Konflikte gebe es zudem auch bei Artikeln im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Wikipedia sei eben ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, erklärt Hardenacke. »Es ist oft Unkenntnis der Verhältnisse in Israel und seiner Geschichte. Und auch die jahrzehntelange Propaganda von den ›unterdrückten‹ Palästinensern trägt Früchte.«

Wikipedia insgesamt habe aber kein Antisemitismus-Problem, ist der Autor überzeugt. »Antisemitismus ist verpönt und wird normalerweise – solange er plump und deutlich zutage tritt – geächtet.« Etwas anderes ist es schon mit latentem Antisemitismus und Antizionismus. Diese würden oft nicht erkannt – »wie im richtigen Leben auch«, meint Hardenacke.

wirkung Trotzdem mache es Sinn, sich zu beteiligen, glaubt er. Die viel gelesenen Wikipedia-Texte haben einen großen Einfluss, gerade auf jüngere Leute: »Unsere Artikel sind ganz sicher in unzählige Schulaufsätze und Referate eingeflossen. Deshalb fordere ich ausdrücklich dazu auf, sich zu beteiligen.« Eigentlich könne jeder etwas beitragen, von Rechtschreibkorrekturen bis hin zur Erstellung ganzer Artikel.

Neulingen empfiehlt er, im Zweifelsfall die Nerven zu bewahren: »Vom dort üblichen Diskussionsstil, der besonders älteren Menschen Probleme bereitet, nicht abschrecken lassen – auch nicht von der weit verbreiteten Unkenntnis bei jüdischen Themen.«

Glosse

Der Rest der Welt

Friede, Freude, Eierkuchen oder Challot, koschere Croissants und Rugelach

von Margalit Edelstein  09.11.2025

Geschichte

Seismograf jüdischer Lebenswelten

Das Simon-Dubnow-Institut in Leipzig feiert den 30. Jahrestag seiner Gründung

von Ralf Balke  09.11.2025

Erinnerung

Den alten und den neuen Nazis ein Schnippchen schlagen: Virtuelle Rundgänge durch Synagogen

Von den Nazis zerstörte Synagogen virtuell zum Leben erwecken, das ist ein Ziel von Marc Grellert. Eine Internetseite zeigt zum 9. November mehr als 40 zerstörte jüdische Gotteshäuser in alter Schönheit

von Christoph Arens  09.11.2025

Theater

Metaebene in Feldafing

Ein Stück von Lena Gorelik eröffnet das Programm »Wohin jetzt? – Jüdisches (Über)leben nach 1945« in den Münchner Kammerspielen

von Katrin Diehl  09.11.2025

Aufgegabelt

Mhalabi-Schnitzel

Rezepte und Leckeres

 09.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  09.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025