Essay

Sichtbar und unsichtbar

Natan Sznaider Foto: picture alliance/dpa

Israel hat sich nie als universales Projekt verstanden. Israel ist die partikulare jüdische Lösung für ein partikulares jüdisches Problem. Diese Spannung der Moderne, die Spannung zwischen dem Allgemeinen und dem Spezifischen, macht sich an der Gegenwart der Juden fest. Antisemitismus, ob ein Gefühl, ein Ressentiment, eine Haltung, ein Gerücht oder gar nur ein Stereotyp oder Vorurteil über eine bestimmte soziale und kulturelle Gruppe, die Juden genannt wird, ist Teil der globalen Moderne. Antisemitismus ist keine Unstimmigkeit der Moderne, die durch Aufklärung behoben werden kann. Antisemitismus ist Teil der Aufklärung.

Wer sind diese Juden und Jüdinnen, denen so vieles übel genommen wird? Gibt es überhaupt eine jüdische Nation ohne Territorium, die verstreut und über Grenzen hinweg in Europa lebt und lebte? Waren die europäischen Juden gleichzeitig assimiliert, orthodox, jüdisch und nicht-jüdisch? Und ist es gerade dieses Nicht-Dazugehören, das auf die ontologische Bosheit des antisemitischen Bewusstseins und die Entschiedenheit des antisemitischen Staates traf, diese transnationalen jüdischen Kulturen und Kleingesellschaften im Herzen Europas auszumerzen?

Die beiden Männer auf dem »Spiegel«-Cover sind unverkennbar Juden, sogenannte Ostjuden.

Ist das tatsächlich ein historisch längst überwundener Ausnahmezustand? Oder gibt es versetzte Parallelen, die tief im europäischen Selbstverständnis spätestens seit der Französischen Revolution mit ihrem Postulat der universellen Gleichheit aller Menschen eingelassen sind, weil dieser universalistische Stolz Europas es zwar den Juden erlaubte, als Gleiche, das heißt als Deutsche, Franzosen et cetera, sich in Europa zu integrieren, aber eben nicht als Juden? Mussten die Juden nicht gerade auch in Europa ihr Jüdischsein immer an der Garderobe abgeben und konvertieren, sich assimilieren, um als Gleiche anerkannt zu werden?

Die jüdische Erfahrung stellt sich quer zu der Vision einer von Europa ausgehenden scheinbar universellen Welt – und das nicht zuletzt deshalb, weil diese Erfahrung in der jüdischen Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus angesiedelt ist.

Partikularismus handelt von Identität, und Identität exkludiert

Partikularismus handelt von Identität, und Identität exkludiert. Jedem Wir steht ein »die« gegenüber, die Menschen, die nicht wie wir sind. Die kulturell Anderen werden in einer Wertehierarchie verortet. Es geht um Kampf, Ehre und Ruhm, im Grenzfall sogar um den eigenen Tod als Ausweis der existenziellen Ernsthaftigkeit.

Die Antithese dieses ethnischen Partikularismus – das Prinzip des Universalismus – ist ihrerseits zutiefst zweischneidig. Auf der einen Seite wird die Verschiedenartigkeit der Rassen, Nationen, Religionen aufgehoben und die Gleichheit aller Menschen, einschließlich gleicher Rechte, behauptet und auf die Fahnen geschrieben. Andererseits werden die kulturelle Differenz und Partikularität nicht nur in der Gleichheit aller aufgehoben, sondern auch ihrer spezifischen Würde und Bürde beraubt.

Die jüdische Erfahrung durch die Geschichte hindurch enthält allerdings eine andere Lehre, nämlich die, dass der Universalismus eine unangemessene Antwort auf die Herausforderung des Partikularismus ist, und zwar eine solche, die kaum weniger gefährlich ist. Wie der verstorbene Rabbiner Jonathan Sacks betonte, gab es fünf universalistische Kulturen in der Geschichte des Westens – das Imperium Alexanders, das Römische Reich, das mittelalterliche Christentum, den mittelalterlichen Islam und die Aufklärung –, die Juden aber wurden in allen fünf verfolgt. Die andere Seite des Universalismus ist die Intoleranz gegenüber dem Partikularen.

»Die unbekannte Welt nebenan«

»Die unbekannte Welt nebenan«. So titelt der »Spiegel« im April 2019 sein Sonderheft über jüdisches Leben in Deutschland. Zwei Herren im besten Alter in ein Gespräch vertieft, schauen sich an und reden, die Welt um sie herum scheint sie nicht zu interessieren. Sie tragen abgewetzte Kleidung und Schuhe. Im Hintergrund ist der Hauseingang einer vermutlichen Berliner Straße zu erkennen, darüber geblendet ein großer Davidstern.

Das Foto macht sie sichtbar. Die beiden sind unverkennbar Juden, sogenannte Ostjuden, Juden also, die aus Osteuropa nach Deutschland eingewandert sind, um dort zu bleiben. Diese Juden waren in der Tat erkennbar anders. In den Augen derer, die sie als Fremde sehen, sind sie keine Europäer, sondern orientalische Fremdlinge, Semiten, die man nicht nur ablehnen kann, sondern zurückweisen muss. Ihre Sichtbarkeit macht sie verletzlich. Ihre offen praktizierte Religiosität, ihre traditionelle Kleidung, ihre Wohnverhältnisse verweisen auf weitere Unterscheidungen des Fort- und Rückschrittlichen.

Die Sichtbarkeit dieser Merkmale löst bei anderen, unsichtbaren Juden, den Nachfolgern des weisen Moses Mendelssohn, der selbst noch ein sichtbarer Jude war, fast Panik aus. Diese Juden und Jüdinnen sind stolz auf ihre Assimilation, sie fühlen sich angekommen, sprechen ein klares Deutsch, führen Geschäfte, gehen auf Universitäten, schreiben Bücher und Zeitungsartikel, haben Liebschaften mit nichtjüdischen Menschen, feiern Weihnachten und fallen für das deutsche Vaterland.

Es ist ein Irrglaube, unsichtbare Juden seien sicher vor den Angriffen der Nichtjuden.

Manche konvertieren zum Christentum, um auch religiös universell zu sein. Sie können sich auf der Straße bewegen, ohne als Juden oder Jüdinnen erkannt zu werden. Diese Unsichtbarkeit aber erweist sich als Illusion, die auf dem Irrglauben beruht, unsichtbare Juden seien sicher vor den Angriffen der Nichtjuden. Sie glauben, dass man, geschützt von einer Tarnkappe, weniger angreifbar sei.

Viele der Reaktionen auf das Foto sind typisch für den Anti-Antisemitismus, vor allem die entrüstete Zurückweisung vieler Juden und Jüdinnen selbst. Juden sähen nicht so aus, heißt das mehr als verständliche Argument. Juden und Jüdinnen sollen so aussehen wie alle anderen Menschen. Warum sind erkennbare Juden eine Klischeevorstellung? Heißt das, dass »unsichtbare« Juden demnach das Gegenteil von Klischee oder Vorurteil bedienen, also »wahre« und »authentische« Juden sind? Diese Frage geht ins Herz der Aufklärung und der Rolle, die die Juden darin spielten.

In dieser Falle der Aufklärung, der Gleichheit, verlangt man von Juden die Unsichtbarkeit. Wir sollen keine Käppchen tragen. Wir sollen die Schläfenlocken und den Bart rasieren. Wir sollen so reden wie die Gojim, aussehen wie die Gojim, uns bewegen wie die Gojim. Das heißt, unsichtbar werden als Juden, mit der Hoffnung, dass damit auch der Antisemitismus unsichtbar wird. Aber das ist ja nicht geschehen. Nicht der Antisemitismus ist unsichtbar geworden, sondern die Juden.

Und deswegen, glaube ich, muss man als ein Gegengift wieder als Jude sichtbar werden. Wie Hannah Arendt sagte: Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude wehren. Darum geht es. Genau da müssen wir als Juden und Jüdinnen handeln, den Finger in die Wunde legen und sagen: Schaut euch das alle an! Man kann Antisemitismus als Einstellung nicht einfach verbieten. Da helfen auch keine Resolutionen. Dass man anders ist, aber gleich ist, dass man sichtbar ist und unsichtbar ist, ist bedrohend. Und damit muss man leben, glaube ich. Es ist Würde und Bürde zugleich. Man kann als Jude nicht in irgendeiner illusorischen Welt leben, in der es keinen Antisemitismus mehr gibt.

Juden müssen eine ganz klare jüdische Position entwickeln, die autonom ist

Ich glaube, dass Juden in Deutschland, und nicht nur da, eine ganz klare jüdische Position entwickeln müssen, die autonom ist. Autonom vom politischen Diskurs um sie herum und auch autonom von den propalästinensischen Demonstrationen, autonom von progressiven Kreisen, aber auch autonom von rechten Nationalisten. Als man Juden vorwarf, eine Nation innerhalb einer Nation zu sein, waren sie nicht imstande, sich diesem Dilemma zu entziehen. Je mehr sich Juden assimilierten, desto »weniger« waren sie Juden. Aber wenn man sich weiterhin als Jude fühlt, und das trotz assimilierter Lebensweise, dann ist es ein Zeichen dafür, dass man doch nicht völlig assimiliert ist.

So verhält es sich dann auch mit dem Staat Israel. Juden in Israel besitzen politische Freiheit, die das Diasporajudentum für sich nicht beanspruchen kann und daher oft auf internationale Schutzmaßnahmen setzte. Jüdisches Denken in der Diaspora braucht sich nicht mit Fragen der militärischen Gewaltausübung auseinanderzusetzen. In Israel entwickelte sich ein Judentum, das vor allem mit Souveränität, Territorium und Macht verknüpft ist.

Dieses israelische Judentum muss sich abgrenzen von einem Judentum in der Diaspora, das entweder aus der Machtlosigkeit heraus eine universale Ethik entwickelt oder sich gerade heute als Teil der israelischen Gemeinschaft außerhalb Israels betrachtet. Denn die Existenz des Staates Israel hat ja das Ressentiment gegen Juden nicht verschwinden lassen. Der Staat Israel steht auch für die aktive, wehrhafte Haltung von Juden und Jüdinnen.

In Israel entwickelte sich ein Judentum, das mit Souveränität, Territorium und Macht verknüpft ist.

Souveräne israelische Juden greifen nun aktiv in die Geschichte ein und vertrauen auf sich und nicht auf Gott oder den Messias. Dazu gehört auch Gewaltanwendung, wenn das jüdische Kollektiv sich verteidigen muss. Als souveräne Israelis sind wir als konkrete Menschen an unser konkretes Dasein mit konkreter Verantwortung gebunden.

Es geht darum, die Konsequenzen des eigenen politischen Handelns miteinzubeziehen, es geht um Verantwortung für das eigene Leben und für die Sicherheit und Existenz der eigenen Gruppe. Das heißt auch, aus der jüdischen Geschichte auszubrechen und souveränes Mitglied der Völkerfamilie zu werden. Dazu gehört, die politischen Kapazitäten des Staates von den mächtigen religiösen und historischen Kräften der jüdischen Volkszugehörigkeit unterscheiden zu können, obwohl gerade am 7. Oktober 2023 diese Unterscheidung in sich zusammenfiel.

Das ist widersprüchlich, denn gleichzeitig kann Israel nicht aufhören, ein Staat der Juden zu sein. Das Rückkehrrecht erlaubt jedem Juden auf der Welt, zu wählen, ob er oder sie zum israelischen politischen Kollektiv gehören will. Das heißt dann auch, dass der souveräne Staat Israel seinen ethnischen Charakter nicht aufgeben kann und sollte, der doch die Grundlage des Landes ist. Ich verstehe diese Widersprüche hier sehr gut, denn es sind die meinen. Aber die israelische Wunde ist eine andere Bürde und auch eine andere Würde.

Der Autor ist emeritierter Professor für Soziologie in Tel Aviv. Er wurde 1954 in Mannheim geboren. Vor Kurzem erschien von ihm »Die Jüdische Wunde. Leben zwischen Anpassung und Autonomie« (Hanser).

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