Tagung der Bildungsabteilung

Seit wann sind israelische Juden »weiße Siedler«?

Johannes Becke, Professor für Israel- und Nahoststudien an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg Foto: Universität Heidelberg – Kommunikation und Marketing

Am 21. Februar beginnt in Frankfurt am Main eine dreitägige Tagung der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden zum Thema »Der 7. Oktober«. Zu den Referenten gehört unter anderen Johannes Becke, Professor für Israel- und Nahoststudien an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS), der über »Israel im Fokus postkolonialer Debatten« spricht. Wir veröffentlichen einen Text des Autors zum Thema.

Wer sich mit postkolonialen Autoren auseinandersetzen will, braucht Geduld. Die Vordenker dieser Theorie-Schule, die ihren Höhepunkt in den 80er und 90er-Jahren des letzten Jahrtausends erlebte, sind in erster Linie für ihren unzugänglichen Jargon bekannt, eine Verschmelzung von Psychoanalyse, postmoderner Literaturtheorie und einem kräftigen Schuss Drittwelt-Ideologie.

Häufig überleben ihre theoretischen Zugänge nur noch in kurzen, vermeintlich griffigen Formeln, die meist die Lektüre ersetzen – der westliche Blick auf den Rest der Welt leidet an »Orientalismus« (Edward Said), alles klar, kann der »Subalterne« sprechen (Gayatri Chakravorty Spivak) oder etwa nicht, liegt hier gerade »Hybridität« oder vielleicht ein »dritter Raum« vor (Homi K. Bhabha)?

Auch der beißende Spott über postkoloniale Denker ist schon älteren Datums. Homi Bhabhas zweiter Platz in einem satirischen Wettbewerb über unleserlichen akademischen Jargon ist inzwischen 26 Jahre her (1998), den Vorwurf der Selbstvermarktung einer »postkolonialen Aura« erhob der marxistische türkische Historiker Arif Dirlik vor inzwischen 30 Jahren (1994).

Je weniger postkoloniale Autoren gelesen werden, umso häufiger begegnet uns das Label des »Postkolonialen« – in den letzten Jahren etwa im etwas überraschenden Versuch, den Historikerstreit der 80er-Jahre wieder aufzuwärmen: Während bei Ernst Nolte noch der sowjetische Gulag »ursprünglicher« war als das nationalsozialistische Auschwitz, so wird uns inzwischen die europäische Kolonialgeschichte als »ursprünglicher« präsentiert, gerne noch mit der (nicht nur für Psychoanalytiker) aufschlussreichen Wendung, auch das zionistische Projekt sei in irgendeiner Form kolonial.

Nicht zuletzt der deutsch-australische Historiker Dirk Moses fabuliert gern über die »siedlungskolonialistische Einheit weißer Juden und Jüdinnen« (gemeint ist vermutlich Israel), die »gegenüber einheimischen Palästinenser:innen ein Regime der Apartheid eingerichtet haben«.

Nicht zuletzt der deutsch-australische Historiker Dirk Moses fabuliert gern über die »siedlungskolonialistische Einheit weißer Juden und Jüdinnen«.

Mit postkolonialer Theorie hat das herzlich wenig zu tun – in den meisten Fällen begegnet uns hier viel eher der Schuldkomplex weißer, angelsächsischer Siedler-Gesellschaften (ob Australien, Neuseeland oder die USA), die von ihrem schlechtes Gewissen über den europäischen Siedlerkolonialismus und die Auslöschung indigener Gesellschaften geplagt werden.

Und während die postkoloniale Theorie noch von Hybridisierung und Kreolisierung sprach, neigt das progressive Milieu weißer Siedler-Gesellschaften längst zur dekolonialen Theorie (in der Nachfolge von Walter Mignolo), also dem Versuch, die politische Dekolonisierung der 60er- und 70er-Jahre durch eine intellektuelle Dekolonisierung zu ergänzen, meist angetrieben vom wütenden Versuch, sich endlich von der europäischen Aufklärung und der westlichen Moderne zu verabschieden.

Auch hier erschöpft sich das akademische Engagement meist in Symbolhandlungen, wie etwa den »Land Acknowledgements«, rituellen Anerkennungsformeln über die eigene koloniale Schuld, mit denen gerne Tagungen eröffnet oder Emails beendet werden.

Im Fall von einigen UCLA-Professoren wird die indigene Bevölkerung von Los Angeles beispielsweise am Ende jeder Email mit der folgenden Geisterbeschwörung angerufen: «The UCLA Luskin Center for History and Policy acknowledges the Gabrielino/Tongva peoples as the traditional land caretakers of Tovaangar (Los Angeles basin, So. Channel Islands). As a land grant institution, we pay our respects to the honuukvetam (ancestors) ›ahiihirom (elders), and ›eyoohiinkem (our relatives/relations) past, present, and emerging.” 

Sich selbst möchte man in diesem Milieu lieber nicht dekolonisieren, sonst müsste Dirk Moses nämlich seinen Lehrstuhl in der kolonialen Siedler-Metropole New York aufgeben und ins beschauliche Aurich seiner ostfriesischen Großeltern zurückziehen. Viel einfacher (und wunderbar entlastend) ist es häufig, einer ganz anderen Gesellschaft energisch zu ihrer eigenen »Dekolonisierung« (oder mit anderen Worten: Abwicklung) zu raten, nämlich – nicht ganz zufällig – den israelischen Juden.

Aber während der europäische Rassen-Antisemitismus jüdische Geschichte durch das Prisma des Orientalismus sah (»Juden als fremde Orientalen«), so sieht das dekoloniale Denken jüdische Geschichte durch das Prisma des Okzidentalismus (»Juden als fremde Europäer«): Die Wirklichkeit spielt dabei keine Rolle.

Das Verhältnis zwischen Zionismus und Kolonialismus ist viel komplizierter als eine einfache Gleichsetzung; nicht zuletzt Ze’ev Jabotinsky war überzeugt davon, man müsse das Narrativ der palästinensisch-arabischen Bevölkerung unbedingt ernst nehmen: »Eingeborene Bevölkerungen, ganz gleich ob zivilisiert oder unzivilisiert, haben sich schon immer hartnäckig gegen Kolonisatoren gewehrt.«

Und dennoch gilt: Die meisten israelischen Juden stammen längst aus der Diaspora des Nahen Ostens und Nordafrikas, israelische Küche, Musik, und Alltagskultur sind stark von den arabischen Nachbargesellschaften beeinflusst – aber das dekoloniale Denken kreist weiter zwanghaft um Formeln aus der europäischen Geschichte, vom »Kolonialismus« der »weißen Siedler« bis hin zu den Vorwürfen von »Apartheid« und »Genozid«.

Nur vor diesem Hintergrund kann die progressive Begeisterung für den Terrorismus der Hamas erklärt werden: Im Kampf gegen weiße Siedler ist alles erlaubt … zumindest dann, wenn man es irgendwann mit der Frantz-Fanon-Lektüre übertrieben hat.

Wer sich heute genüsslich die »Dekolonisierung« Israels ausmalt, darf sich nicht wundern, wenn die israelische Rechte morgen die Dekolonisierung des Tempelbergs einfordert.

Aber seit wann sind israelische Juden weiße Siedler? Und wer genau müsste in Israel/Palästina eigentlich seine Emails mit rituellen Anrufungen der indigenen Bevölkerung beenden? Die Universität Tel Aviv mag auf den Ruinen des arabischen Dorfs asch-Schaich Muwannis errichtet worden sein – aber wenn man schon anfängt, sich gegenseitig Eroberung und Besiedlung vorzurechnen: Fügen sich dann nicht plötzlich die arabisch-palästinensischen Universitäten in Birzeit und Nablus scheinbar nahtlos ein in die jahrhundertelange Geschichte von arabischer Kolonisierung und Islamisierung des Nahen Ostens?

Denn bei näherem Hinsehen wird es kompliziert, wenn man es ernst meint mit Indigenitäts-Narrativen und dem Anspruch der unbedingten Dekolonisierung: Für Hindu-Fundamentalisten war die Zerstörung der Babri-Moschee im nordindischen Ayodhya (1992) nur ein erster Schritt für die Wiederrichtung eines Ram-Tempels, der tatsächlich vor kurzem vom indischen Premierminister Modi eingeweiht wurde.

Kolonialismus hat eben hat viele Gesichter – und wer vom englischen Kolonialismus spricht, so würden Hindu-Fundamentalisten und nicht wenige israelische Rechtsextremisten argumentieren, der darf vom islamischen Kolonialismus nicht schweigen. Dekoloniale Theorie ist daher mit Vorsicht zu genießen – wer sich heute genüsslich die »Dekolonisierung« Israels ausmalt, darf sich nicht wundern, wenn die israelische Rechte morgen die Dekolonisierung des Tempelbergs einfordert.

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