Kinogeschichte

Sehen und Wegschauen

Hildegard Knef in »Die Mörder sind unter uns«, dem ersten deutschen Nachkriegsfilm Foto: imago/Prod.DB

Am 8. September 1948 berichtete der »Spiegel« unter dem Titel »Film der Häftlinge. Preisgekrönt« über ein außergewöhnliches Kinoereignis im Kino Babylon im »Ostsektor« Berlins. Gezeigt wurde der polnische Film Die letzte Etappe von Wanda Jakubowska und Gerda Schneider: »Vor einem Jahr wurde der Streifen vom Vernichtungslager Auschwitz auf den Filmfestspielen von Marienbad preisgekrönt. (…) Gequält, geprügelt, immer vom Transport zum Gasofen bedroht, finden die Frauen doch den Raum, auf dem sie als Menschen leben. Gegenseitige Freundschaft und ein gemeinsamer Kampf halten sie aufrecht. (…) Die Scheußlichkeiten des deutschen Personals sind oft nicht mehr zu fassen. Die leidgedämpften Blicke und Gesten der Häftlinge machen den Film einprägsam und erfolgreich. Die Berliner Premierengäste klatschten, als Französinnen auf dem Wege zum Verbrennungsofen die Marseillaise singen, und als Häftlinge die Nachrichten aus Stalingrad bejubelten. Bei späteren Vorstellungen blieben die Zuschauer ruhig. Viele weinten.«

Diese erstaunlich positive Filmkritik – handelte es sich doch um einen polnischen Film einer kommunistischen Regisseurin, der in der Ostzone gezeigt und preisgekrönt worden war und in dem Stalin als Befreier der Gemarterten gefeiert wird – ist eine von nur vier Erwähnungen, die das Wort »Auschwitz« im »Spiegel« im Jahr 1949 findet; bis 1960 wird das Wort nur 55-mal in diesem Wochenmagazin erwähnt.

PROTEST Es ist insofern bezeichnend, dass auch eine zweite Erwähnung des Wortes Auschwitz im Jahr 1949 im »Spiegel« wieder mit Film zu tun hat. Diesmal geht es jedoch um den »ersten großen Nachkriegs-Filmskandal«, wie der »Spiegel« reißerisch unter der markigen Überschrift »Erschießt uns doch. Twist-Zwist« am 26. Februar 1949 aufmachte. Sogar »Goebbels ›weiße Mäuse‹ ... gegen den Remarque-Film Im Westen nichts Neues« – ein Bild, das den Spiegel-Lesern offenbar noch präsent war – hätten da nicht mithalten können. Es ging um den britischen Film Oliver Twist nach Charles Dickens von Oliver Lean, der damals in der – inzwischen leider zum Biomarkt umgewandelten – Charlottenburger »Kurbel« gezeigt werden sollte.

Die jüdische Gemeinde hatte protestiert, dass der Film aufgrund der Darstellung des von Alec Guinness gespielten Diebeskönigs Fagin – einem »bösartigen Kerl, der Kinder, auch Oliver Twist, zu Taschendieben abrichtet« und den Dickens einen »garstig aussehenden, abstoßenden alten Juden« genannt hatte – antisemitischen Tendenzen Vorschub leiste und auf einer Stufe stehe mit Veit Harlans Jud Süß. Jüdische DPs demonstrierten vor der »Kurbel« und wurden von Berliner Schupos unter Einsatz von Schlagstöcken gewaltsam auseinandergetrieben. Dabei gab es mindestens 35 Verletzte und drei Festnahmen.

1949 gab es Proteste gegen den britischen Spielfilm »Oliver Twist«.

Der Spiegel berichtete: »Schläge prasselten. Anschließend Steine, von den Demonstranten geworfen. Die Polizei wich zurück und griff zum kalten Wasserstrahl. (...) ›Erschießt uns doch‹, riefen die Demonstranten und öffneten die Jacketts. (...) Erich Borchardt, Repräsentant der jüdischen Gemeinde, gab in jiddischer Sprache bekannt, der Film sei abgesetzt und werde nicht mehr gespielt. Die Demonstranten nahmen Borchardt auf die siegreichen Schultern und zogen, die jüdische Nationalhymne auf den Lippen, in ihr Kurfürstendamm-Hauptquartier zurück, die Bar ›Barbarina‹. (…) Antisemitische Kundgebungen gab es nicht.«

Die internationale Presse war geschockt und zeigte Bilder von deutschen Schupos, die Juden verhafteten. Das amerikanische »Life Magazine« vom 7. März 1949 berichtete unter der Überschrift »Fagin in Berlin provokes Riot« und machte mit der Zeile auf: »The pictures from Berlin last week were like pictures of an old nightmare. Here again, as there had been a decade ago, were club-swinging police and mauled and battered Jews.«

GERICHT Die Auseinandersetzung mit antisemitischen Filmen spielte in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch im Falle des bereits erwähnten Veit Harlan eine wichtige Rolle: Harlan war nach dem Krieg wegen seines antisemitischen Films Jud Süß von der »Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen« und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) angezeigt und wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt worden. Jud Süß hatten während des Krieges 19 Millionen Menschen gesehen. Nach Vorführungen war es mancherorts zu pogromartigen Ausschreitungen gekommen. Um den Hass gegen Juden anzustacheln, war der Film SS- und Polizeieinheiten vor »Judenaktionen« in den besetzten Ostgebieten ebenso gezeigt worden wie Angehörigen der Lagermannschaft von Auschwitz.

Das Schwurgericht in Hamburg sprach Harlan am 23. April 1949 jedoch vom Vorwurf der Verbrechen gegen die Menschlichkeit frei, weil ihm eine persönlich zurechenbare Schuld nicht nachzuweisen und eine strafrechtlich relevante Kausalität zwischen Film und Völkermord nicht beweisbar sei. Der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone in Köln hob das Urteil auf, denn Jud Süß sei »ein nicht unwesentliches Werkzeug« gewesen, aber das Hamburger Schwurgericht blieb bei seiner Entscheidung: Harlan wurde freigesprochen.

Der Nazi-Regisseur Veit Harlan wehrte sich juristisch gegen den Boykott seiner Filme.

Damit war der Fall Harlan jedoch noch nicht zu Ende: Der Hamburger Senatsdirektor und Leiter des Presseamtes, Erich Lüth, rief 1950 dazu auf, den im selben Jahr unter der Regie von Harlan entstandenen Film Unsterbliche Geliebte zu boykottieren. Die Produktions- und die Verleihfirma für den Film erwirkten daraufhin beim Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen Lüth. Dieser wandte sich daraufhin mit seiner Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Er machte geltend, in seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden zu sein, und erhielt am 15. Januar 1958 recht.

Diese beiden Beispiele zeigen, dass die Auseinandersetzung um Filme und Filmschaffende bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit wichtige Impulse für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust setzte. Zudem war die jüngste Vergangenheit auch in einer Reihe von Dokumentar- und Spielfilmen der unmittelbaren Nachkriegszeit präsent.

AUFKLÄRUNG Für die Alliierten war die Aufklärung der deutschen Bevölkerung über die im deutschen Namen begangenen Massenverbrechen ein zentrales Anliegen. Bereits im Oktober 1944 überlegte das German Committee des Office of War Information (OWI), wie Material über »deutsche Grausamkeiten« zur Umerziehung des deutschen Volkes verwendet werden könnte. Es entstand zunächst ein Kurzfilm mit dem Arbeitstitel »KZ«, der anlässlich der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Francisco gezeigt werden sollte.

Die erste kinematografische Nachricht über Konzentrationslager, mit der die deutsche Bevölkerung konfrontiert wurde, ist die britisch-amerikanische Wochenschau »Welt im Film«, Nr. 5, Sonderausgabe »KZ«, die im Juli 1945 öffentlich gemacht wurde. Sie beginnt mit dem Besuch General Eisenhowers im Lager Ohrdruf/Thüringen am 12. April 1945. Später wurde diese Wochenschau in der britischen und amerikanischen Besatzungszone als Pflicht-Vorfilm gezeigt. Auch in der französischen Besatzungszone entstand ein ähnlicher Aufklärungsfilm mit dem Titel Les Comtes de la Mort. In der Sowjetunion und in Polen entstehen zwei Filme mit den Namen Auschwitz und Majdanek.

Die Alliierten produzierten eine Reihe von Dokumentarfilmen über die NS-Verbrechen.

Ferner produzierte die Wochenschau-Abteilung der US Information Control Division (ICD) unter der Regie des Exiltschechen Hanuš Burger und Billy Wilders den 22-minütigen Dokumentarfilm Todesmühlen. Einen Teil des Materials lieferte ein ähnliches Projekt der Briten mit Alfred Hitchcock als Regisseur (Night Will Fall), das jedoch eingestellt wurde. Die Psychological Warfare Division setzte Todesmühlen im Rahmen der Umerziehungs- und Entnazifizierungsbemühungen ein. Der im Juli 1945 fertiggestellte Film wurde im Oktober uraufgeführt und ab Januar 1946 in den Kinos in Bayern und ab März 1946 in Hessen, Hamburg und Berlin (West) gezeigt. Er konfrontierte die deutsche Bevölkerung mit den unter ihren Augen begangenen Verbrechen und dokumentierte die Bedingungen in verschiedenen Konzentrations- beziehungsweise Vernichtungslagern, unter anderem Dachau, Auschwitz, Majdanek, Bergen-Belsen und Buchenwald.

Todesmühlen wurde damals in 51 Kinos in Berlin im amerikanischen Sektor gezeigt und von 157.120 Personen, etwa einem Viertel der Bevölkerung des Sektors, gesehen. Der Berliner »Tagesspiegel« kommentierte am 9. April 1946 unter der Überschrift »Angst vor der Wahrheit«: »Fünfundsiebzig Prozent wollten sich aber nicht schämen.« Bereits 1947 wurde der Film zurückgezogen und nicht mehr aufgeführt. Auch in der britischen Zone gab es Befürchtungen, dass die Deutschen gegen weitere Aufführungen des Filmes revoltieren würden, weshalb auch dort bis 1947 nur einige wenige begleitete und beobachtete Aufführungen stattfanden.

SCHULD Mit der Frage von Schuld und Sühne befasste sich auch der erste deutsche Spielfilm, der 1946 von der damals unter sowjetischer Ägide gegründeten DEFA gedreht wurde. Schon der Titel Die Mörder sind unter uns war eine Anklage. Der Regisseur Wolfgang Staudte war allerdings auch selbst mit einer Nebenrolle am NS-Propagandafilm Jud Süß beteiligt gewesen. Der ursprüngliche Arbeitstitel des Filmes lautete »Der Mann, den ich töten werde«. Der Film musste allerdings umbenannt und das Drehbuch umgeschrieben werden, da die sowjetischen Zensoren befürchteten, dass die Zuschauer in dem Film sonst einen Aufruf zur Selbstjustiz sehen könnten.

Schon der erste deutsche Spielfilm nach 1945 befasste sich mit dem Thema Schuld und Sühne.

Der Film spielt 1945 im zerbombten Berlin. Die junge Hildegard Knef spielt eine KZ-Überlebende, die in ihre alte Wohnung in Berlin zurückkehrt, wo sie den ehemaligen Militärchirurgen Dr. Hans Mertens (Ernst Wilhelm Borchert) antrifft. Beide werden gezwungenermaßen zu Mitbewohnern. Hans leidet unter schrecklichen Kriegserinnerungen und ist Alkoholiker. Als er seinen ehemaligen Vorgesetzten Brückner trifft, der bereits einen neuen erfolgreichen Betrieb aufgebaut hat, der aus Stahlhelmen Kochtöpfe fertigt, schmiedet er Mordpläne. Er will Brückner für die Erschießung von 121 Zivilisten – Frauen, Männer und Kinder – im Osten zur Rechenschaft ziehen. Hieran hindert ihn im letzten Moment Hildegard Knef, die sich in ihn verliebt hat.

Der Film enthält eine Reihe von starken Dialogen in der Berliner Trümmerlandschaft, in der Mertens wie ein Mahner zwischen den Ruinen wirkt mit Sätzen wie »Bei den Spießern ist immer alles in Ordnung«. Am Ende ziehen die Gemordeten als Gespenster vorbei, als Mertens von Brückner Rechenschaft für dessen Verbrechen fordert.

Der Film wurde am 15. Oktober 1946 im sowjetischen Sektor Berlins im Admiralspalast uraufgeführt. In den westlichen Besatzungszonen war der Film erstmals am 10. April 1947 in Baden-Baden zu sehen. Er ist der Beginn einer Reihe von DEFA-Filmen, die sich auch mit der Verbrechensgeschichte befassen. Im Westen war diese Auseinandersetzung anfangs sehr viel zögerlicher.

Der Autor ist Direktor der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz.

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