Geschichte

Schaufenster der Diktatur

Ein neues Buch zeigt, wie aus dem Vorgänger des Berliner Friedrichstadt-Palastes ein nationalsozialistisches Vorzeigetheater wurde

von Ralf Balke  22.04.2023 21:33 Uhr

»Jüdische Wurzeln seit 1919«: Der Friedrichstadt-Palast setzte schon im Herbst 2019 ein Zeichen. Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

Ein neues Buch zeigt, wie aus dem Vorgänger des Berliner Friedrichstadt-Palastes ein nationalsozialistisches Vorzeigetheater wurde

von Ralf Balke  22.04.2023 21:33 Uhr

Es war kein Klezmer-Festival, das da angekündigt wurde. Denn als im Herbst 2019 eine Fahne mit Davidstern und der Aufschrift »Jüdische Wurzeln seit 1919« vor dem Friedrichstadt-Palast in Berlin-Mitte im Wind flatterte, ging es um etwas ganz anderes, und zwar den »Respekt vor dem Gründer«. Das jedenfalls betonte seinerzeit Berndt Schmidt, Intendant des immerhin größten Theaterbaus der Hauptstadt und einer der meistbesuchten Varieté-Bühnen Europas, im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen.

Damals stand ein Jubiläum an. Schließlich hatte genau 100 Jahre zuvor die Keimzelle des Friedrichstadt-Palastes, das Große Schauspielhaus, unter der Regie von Max Reinhardt das Stück Die Orestie von Aischylos auf die Bühne gebracht und so den legendären Ruf der Spielstätte begründet, der bis in die Gegenwart nachhallt.

Avantgarde Von Anfang an übte man sich dabei im Spagat. Zwar zählte das Große Schauspielhaus mit Reinhardts Inszenierungen von Hamlet, Julius Cäsar oder Dantons Tod rasch zur Avantgarde des Theaters in der Weimarer Republik. Doch damit allein wäre die Großbühne mit ihren mehr als 3000 Plätzen, gestaltet von dem Architekten Hans Poelzig, einem Vertreter der Neuen Sachlichkeit, kaum auf Dauer zu füllen gewesen.

Ohnehin wurde vom Publikum auch leichtere Kost verlangt, erst recht nach verlorenem Krieg, Revolutionswirren und Hyperinflation. Damit begann die Blütezeit der Revuen. Reinhardt selbst hatte rechtzeitig ihr Potenzial erkannt und Erik Charell die künstlerische Leitung angeboten, einem begnadeten Tänzer und Choreografen, der in den Vereinigten Staaten Broadway-Luft geschnuppert hatte.

Bald schon galt er als »Revuekönig« von Berlin, brachte unter anderem 1930 die Musikschau Im weißen Rößl auf die Bühne. Und mit dem Stück Trotz alledem von Erwin Piscator sollte es im Großen Schauspielhaus auch noch richtig politisch werden.

Der Friedrichstadt-Palast der Gegenwart ist sich seiner wechselvollen Historie sehr bewusst.

Doch finanziell stand das Ganze immer auf wackeligem Boden, weshalb Reinhardt 1932 das Große Schauspielhaus an Alfred und Fritz Rotter verpachtete, zwei Brüder, die so etwas wie die Platzhirsche im Berliner Unterhaltungsbetrieb waren und mit der von ihnen auf die Bühne gebrachten Operette Ball im Savoy trotz Weltwirtschaftskrise einen Megahit landeten.

»Hochkarätige politische Prominenz wie der Reichskanzler Kurt von Schleicher, sein Vorgänger und Nachfolger Franz von Papen und auch der ehemalige Thronfolger Wilhelm Prinz von Preußen ließen es sich nicht nehmen, dem illustren Ereignis beizuwohnen«, weiß Sabine Schneller in Dein Tänzer ist der Tod zu berichten.

Aber weder Renommee noch illustre Gäste konnten die Betreiber retten. Denn für die Nationalsozialisten, die seit Anfang 1933 das Sagen hatten, war das Große Schauspielhaus der Inbegriff eines jüdischen Kulturbetriebs, den es abzuwickeln galt – egal, ob Produktionen wie Ball im Savoy vom Publikum gefeiert wurden oder nicht. Die Tatsache, dass Max Reinhardt 1873 als Maximilian Goldmann geboren wurde und die Rotter-Brüder ebenfalls Juden waren, sollte für sie Grund genug sein, dem Vorläufer des Friedrichstadt-Palasts frühzeitig den Kampf anzusagen und die »jüdischen Sudeleien« vom Programm zu streichen.

Boykott »Im Zuge des vom NS-Regime ausgerufenen reichsweiten ›Judenboykotts‹ am 1. April 1933 trauten sie sich, auch das zu dieser Zeit beliebteste Theaterevent Berlins wegen der jüdischen und ausländischen Bühnenkünstler:innen und des jüdischen Komponisten Paul Abraham anzugreifen«, so die Historikerin Schneller. Für Reinhardt und andere wurde es eng. Charell hatte bereits 1932 Deutschland den Rücken gekehrt. »Als jüdischer Homosexueller und sensibler Künstler sah Charell frühzeitig die politische Gefahr, die vom Nationalsozialismus ausging.« Reinhardt selbst soll Deutschland bereits am Abend des Reichstagsbrandes verlassen haben.

Schneller skizziert, mit welchen Tricks sich die Nazi-Pseudo-Gewerkschaft Deutsche Arbeitsfront (DAF) das Große Schauspielhaus sowie weitere Bühnen, die Reinhardt gehörten, unter den Nagel riss. »Diese frühe Enteignung gilt bis heute als besonders prominenter Fall der ›Arisierung‹. Erst in den 90er-Jahren sollte Reinhardts rechtmäßiger Anteil an der Deutschen Nationaltheater AG an seine Erben zurückgegeben werden.«

Detailliert zeigt die Autorin auf, nach welchen Mechanismen sich die Gleichschaltung der Berliner Theaterlandschaft abspielte und wie aus dem Großen Schauspielhaus das »Theater des Volkes« wurde. »Aber was konnte, was sollte in dem neuen nationalsozialistischen Vorzeigetheater gezeigt werden? Für den Spielplan kam nur noch ein ›gesäuberter‹ bürgerlicher Kanon der Dramatik, infrage. Das hieß: nicht jüdisch, nicht politisch, nicht sexuell freizügig, nicht von Andersdenkenden und nicht avantgardistisch, weil ›entartet‹.«

hakenkreuz Verantwortlich dafür sollte als erster Intendant im Theater unter dem Hakenkreuz Walther Brügmann werden. Eine irritierende Wahl – schließlich hatte der gebürtige Leipziger noch in den 1920er-Jahren Brecht auf die Bühne gebracht oder Opern durch Jazz-Elemente angereichert. Jetzt inszenierte er Shakespeares Sommernachtstraum, Ibsens Peer Gynt oder die Kraft-durch-Freude-Nazi-Revue Freut euch des Lebens. Doch schon 1936 verlor Brügmann seinen Job aufgrund von Denunziationen und musste wie viele frühere Große-Schauspielhaus-Bühnenstars und -Regisseure das Land fluchtartig verlassen.

Dein Tänzer ist der Tod zeigt zum einen, dass selbst die auf den ersten Blick hin seichtesten Stücke und Tanzshows alles andere als nur unpolitische Unterhaltung waren, sondern ebenfalls die ideologischen Botschaften des NS-Regimes – fröhlich tanzend und singend – mit unters Volk brachten. Zum anderen sind die Geschehnisse rund um die Umgestaltung des Großen Schauspielhauses zum »Theater des Volkes« sowie die zahlreichen Interventionen diverser NS-Größen wie Joseph Goebbels oder des DAF-Leiters Robert Ley ein Spiegelbild des Herrschaftssystems mit seinen zahlreichen Machtzentren innerhalb der Partei und des Staatsapparates, die alle munter um Einfluss und Positionen rangelten, also einen Mikrokosmos der Diktatur wiedergeben.

Nun könnte man sich über die unzähligen Intrigen und die aufgeblasenen Egos der Partei-Bonzen, die selbst Stoff für Bühne oder Film geliefert hätten, köstlich amüsieren. Doch für manche Beteiligten konnten sie äußerst unangenehme Folgen haben.

propagandaministerium So wollte die ideologisch-stramme »Dienststelle Rosenberg« dem Operettenkomponisten Eduard Künneke, Macher von Stücken wie Vetter aus Dingsda und Glückliche Reise, an den Kragen, weil dieser mit einer »nichtarischen« Frau verheiratet war. Das Propagandaministerium sah das anders, drückte in diesem Fall die Augen zu, weil man auf die populären Operetten nicht verzichten wollte, und ordnete an, den Mann in Ruhe arbeiten zu lassen.

Künneke hatte also noch einmal Glück. Edmund Nick, von Walther Brügmann als Musikalischer Leiter an Bord geholt, dagegen nicht. Er verlor seinen Job wegen des fehlenden »Ariernachweises« seiner Gattin.

Oder der Reichsmusikkammer fiel auf, dass weiterhin Lieder von Erik Charell oder anderen längst emigrierten Musikern im Programm zu finden waren. »›Jüdische‹ Schlager der Weimarer Zeit erschienen dabei wohl unverzichtbar«, so Schneller. Man löste das Dilemma in der Form, dass die Namen ihrer Urheber einfach ungenannt blieben. Mit NS-Kitsch à la »Deutsche Passion 1933« ließ sich das Riesenhaus – das alte Problem, mit dem bereits Max Reinhardt konfrontiert war – nicht füllen, weshalb man auf Altbewährtes aus der verachteten »Systemzeit« zurückgreifen musste.

Das Haus war der Inbegriff eines jüdischen Kulturbetriebs, den es abzuwickeln galt.

Wenig überraschend ist auch die Tatsache, dass eine Mitwirkung am »Theater des Volkes« nach 1945 für so gut wie alle Beteiligten sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR keinen Karriereknick bedeutete. Und heute?

Der Friedrichstadt-Palast der Gegenwart ist sich seiner wechselvollen Historie sehr bewusst und setzt sich explizit für Freiheit, Vielfalt und Demokratie ein – vor allem, wenn sie wieder bedroht wird. »Unsere Gründer von 1919 litten später unter den Nazis«, betont Intendant Berndt Schmidt auf der Webseite des Hauses. »Max Reinhardt als Jude, Erik Charell als Jude und Homosexueller sowie Hans Poelzig als expressionistischer Architekt. Reinhardt und Charell gingen ins Exil, Poelzig erhielt Berufsverbot. Das steckt im Haus, und das ist eine Verpflichtung«, schließt Sabine Schneller. »Erst recht nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle oder Angriffen auf Rabbiner und jüdische Gläubige in Deutschland.

Sabine Schneller: »›Dein Tänzer ist der Tod‹ – Das Berliner ›Theater des Volkes‹ im Nationalsozialismus«. BeBra, Berlin 2023, 288 S., 28 €

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