Literatur

Ruth Klüger wird 85

Ruth Klüger Foto: usage Germany only, Verwendung nur in Deutschland

Es war Zufall. So jedenfalls deutet Ruth Klüger ihre Rettung. Als sie sich 1944 mit zwölf Jahren im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau für die Selektion anstellte, gab ihr eine Frau den Rat, sich als 15-Jährige auszugeben. Sie tat es und überlebte. Aber, schrieb sie in ihrer ersten Autobiografie weiter leben: »Die Folter verlässt den Gefolterten nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht.«

»Wir Auserwählten wurden in Waggons verfrachtet und ins Arbeitslager verschickt«, berichtete die Germanistin am 27. Januar 2016, dem Holocaust-Gedenktag, vor dem Deutschen Bundestag. »Wir haben den Wald gerodet und Schienen getragen.« Die meisten Frauen, auch ihre Mutter, hätten in einer Munitionsfabrik gearbeitet. Andere seien zu »sexueller Zwangsarbeit« gezwungen und bis heute nie entschädigt worden. »Der Respekt, den man den Überlebenden entgegenbrachte, galt für sie nicht.«

österreich Susanne Ruth Klüger, 1931 als Tochter eines jüdischen Gynäkologen in Wien geboren, durfte sich nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland auf keine Parkbank mehr setzen. Sieben Jahre alt war sie damals. Aus Trotz entschied sie sich für ihren zweiten Namen: Ruth. Mit elf wurde sie gemeinsam mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert, von dort nach Auschwitz und schließlich ins Arbeitslager Christianstadt. Ihr Vater und ihr Halbbruder wurden ermordet. Mutter und Tochter konnten Ende des Krieges bei einem der Todesmärsche fliehen.

»Ich habe den Verstand nicht verloren, ich habe gereimt«, darauf beharrt Ruth Klüger stets, wenn man sie fragt, wie sie die Konzentrationslager überlebt hat. Die gebundene Sprache der Lyrik gab ihr Halt, Gedichte wurden zu ihrer Überlebensstrategie. 2013 kam ihr Gedichtband Zerreißproben heraus. Das Weiterleben widmete sie der Wahrheitsfindung mittels Literatur, wie sie später ihre wissenschaftliche Arbeit als Germanistin beschrieb: »Literatur interpretiert das Leben.«

Nach dem Krieg machte sie im bayerischen Straubing das Notabitur und studierte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Regensburg. Dort schloss sie Freundschaft mit ihrem Kommilitonen Martin Walser. Als der Schriftsteller 2002 seinen Roman Tod eines Kritikers veröffentlichte, in dem Marcel Reich-Ranicki im Mittelpunkt steht, kritisierte sie dessen antisemitische Tendenz in einem offenen Brief an den Verfasser: »Gerade in seiner Unterschwelligkeit folgt Deine Darstellung einem geradezu klassischen Muster der Diskriminierung.«

amerika Ruth Klüger hatte es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg nicht lange in Deutschland gehalten: 1947 war sie in die Vereinigten Staaten emigriert. In New York studierte sie Bibliothekswissenschaften, im kalifornischen Berkeley Germanistik. Sie heiratete den Historiker Werner Angress, wurde Mutter zweier Kinder und promovierte 1967 nach ihrer Scheidung über die Lyrik des Barock. 1980 übernahm sie einen Lehrstuhl für Germanistik an der Princeton University, 1986 folgte sie dem Ruf an die University of California in Irvine.

Obgleich sie Deutsche Literatur lehrte, hatte sie lange nur in Englisch publiziert. Als sie 1988 als Gastprofessorin an der Georg-August-Universität Göttingen nach Deutschland zurückkehrte, näherte sie sich auch wieder emotional ihrer Muttersprache. Den Göttinger Freunden widmete sie 1992 ihre Erinnerungen an ihre Jugend im Nationalsozialismus. Der Suhrkamp-Verlag lehnte das Manuskript ab, weil es ihm nicht literarisch genug war. Glück für den Wallstein-Verlag, der mit dem Buch weiter leben einen spektakulären Erfolg verbuchte.

»Ruth Klüger liebt die Stille, die alarmierende freilich, die Knappheit, die provozierende, das Understatement, das schreiende«, schrieb Marcel Reich-Ranicki einmal. Sein Kollege Thomas Steinfeld nannte die Autorin eine »Meisterin des mittleren Maßes«, womit er »das Maß des Redlichen« meinte: »Sie nimmt wahr, sie hört hin, sie spürt nach, aber wirklich ergriffen, fasziniert, fixiert wirkt sie nie.«

feminismus In ihrem Essayband Katastrophen (1994) spürte Ruth Klüger jüdischen Figuren in der deutschen Literatur nach. Unter dem Titel Frauen lesen anders veröffentlichte sie 1996 ihre feministischen Vorträge und Aufsätze. 2008 Jahren erschien ihr zweites Erinnerungsbuch unter dem Titel unterwegs verloren, in dem sie sich über ihr Leben als Ehefrau und Mutter in Amerika Rechenschaft gibt.

Analytische Schärfe und sachliche Nüchternheit zeichnen die Arbeiten dieser Autorin aus, die seit einiger Zeit an einem Roman über den Zufall arbeitet. Beeindruckt zeigte sie sich in ihrer Bundestags-Rede im Januar 2016 von der Willkommenskultur vieler Deutscher gegenüber Flüchtlingen.

»Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind«, bekannte sie. Deutschland, das vor 80 Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich gewesen sei, habe damit »den Beifall der Welt gewonnen«.

Am heutigen Sonntag wird die Schriftstellerin, Germanistin und Zeitzeugin Ruth Klüger 85 Jahre alt.

Antisemitismus

Kanye Wests Hitler-Song »WW3« ist Hit auf Spotify

Der Text ist voller Hitler-Verehrung, gleichzeitig behauptet der Musiker, er könne kein Antisemit sein, weil er schwarz sei

 08.05.2025

Statistik

Dieser hebräische Jungenname bleibt der beliebteste in Deutschland

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat sich für ihre Erhebung die Daten deutscher Standesämter angeschaut

 08.05.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  08.05.2025

Schweiz

Israel warnt vor Reisen zum ESC

Den Eurovision Song Contests in Basel als Jude oder Israeli zu besuchen, könnte gefährlich werden: Das befürchtet Israels Sicherheitsrat und empfiehlt Bürgern Zurückhaltung und Wachsamkeit

 08.05.2025

Geschichte

Kampf ums Überleben

Jochen Hellbeck analysiert in seinem neuen Buch den deutschen Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion und die Rolle ihrer jüdischen Bürger im Zweiten Weltkrieg

von Dmitirj Belkin  08.05.2025

Bergen-Belsen

»Der Holocaust wird als Kulisse benutzt, um Israel anzugreifen«

Menachem Rosensaft ist verstört über ein Theaterstück, in dem die Lage von jüdischen Schoa-Überlebenden in Displaced-Persons-Camps mit der von Palästinensern verglichen wird

von Michael Thaidigsmann  08.05.2025 Aktualisiert

Berlin

Weimer: Antisemitismus in der Kultur als erstes großes Thema

Der neue Staatsminister für Kultur und Medien will an seinem ersten Tag ein Zeichen setzen - und empfängt gleich einen besonderen Gast

 07.05.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen nun in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  07.05.2025

Kulturstaatsministerium

Weimer sichert Zentralrat der Juden Solidarität zu

Neuer Minister nach Gespräch mit Josef Schuster: »Für mich ist es schmerzlich, ja unerträglich, zu sehen, wie der Antisemitismus in die Gesellschaft hineinkriecht«

 07.05.2025 Aktualisiert