Kino

»Rückfall ins Mittelalter«

Im Jahre 1858 verschleppten Soldaten des Papstes im jüdischen Viertel von Bologna den sechsjährigen Edgardo Mortara, Sohn einer großen wie auch liebevollen jüdischen Familie. Das Kind war als Baby heimlich von seiner Amme getauft worden. Daher musste es nach dem päpstlichen Willen eine katholische Erziehung erfahren. Der skandalöse Entführungsfall löste eine riesige Solidaritätswelle jüdischer Gemeinden in ganz Europa aus. Unterstützung kam aber auch von der fortschrittlichen italienischen Öffentlichkeit. Doch trotz des verzweifelten Kampfes der Familie blieb Papst Pius IX. unerbittlich.

Der italienische Regisseur Marco Bel­locchio, einer der bedeutendsten europäischen Filmemacher, erzählt diese wahre Geschichte in Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes. Der Spielfilm wurde im Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes gezeigt. Unser Autor Knut Elstermann hat Marco Bellocchio in Berlin zum Interview getroffen.

Herr Bellocchio, ich hatte von dieser erschütternden Geschichte noch nie gehört. In Italien sind zwar Bücher über den Fall erschienen, aber ist er dort wirklich bekannt?
Diese Geschichte ist nicht besonders bekannt in Italien. Zum einen liegt es daran, dass die jüdische Gemeinde relativ klein war und ist. Zudem kamen solche Entführungen eher im 17. und 18. Jahrhundert vor, im 19. Jahrhundert war so etwas eine große Ausnahme. Die Geschichte von Edgardo Mortara ist deshalb auch so besonders, weil zu dieser Zeit progressive Ideen ja schon längst weit verbreitet waren. Auch konnte sich die Kirche selten mit Gewalt durchsetzen, zumal der Papst mit dem Kirchenstaat, zu dem auch Bologna gehörte, nur noch über ein relativ kleines Gebiet in Italien herrschte. Es ist tatsächlich einer der finalen Gewaltakte der Kirche und eine ihrer letzten Entführungen. Im Grunde war das Ganze nur ein einzelnes Ereignis. Aber es steht für den Umgang mit der ganzen jüdischen Gemeinde und hat dadurch eine universelle Bedeutung. Das hat mich sehr interessiert.

Die Tatsache, dass sich Juden weltweit für das Kind ebenso engagiert hatten wie die bürgerliche italienische Öffentlichkeit, verweist auf den Einzug der Moderne. Wollen Sie in Ihrem Film auch von dieser Solidarität als einer neuen globalen Anteilnahme erzählen?
Sie ist nur möglich gewesen, weil die Familie Mortara sich gewehrt und öffentlich protestiert hat. Sie bat bei den jüdischen Gemeinden in Frankreich, England, Deutschland und den USA um Unterstütz-ung. Wegen dieser familiären Rebellion ist der Fall Mortara überhaupt erst bekannt geworden. Es war ohnehin eine Epoche, in der sich alles veränderte. Italien wurde vereint, progressive Ideen verbreiteten sich. Da erschien eine solche Entführung wie ein Rückfall ins Mittelalter.

Das Familienleben ist ein wichtiges Element in dem Film, vor allem die enge Bindung des Sohns an die Mutter. Wie haben Sie versucht, dieses jüdische Leben zu verstehen und es genau zu schildern?
Für alles, was das jüdische Leben betrifft, haben wir uns von Juden helfen lassen, darunter auch von einem Rabbiner. Er hat uns zum Beispiel beigebracht, wie man die Gebete richtig spricht, weil niemand in unserem Produktionsteam jüdischer Herkunft ist. Und was die Familie angeht – ich komme selbst aus einem sehr großen Haushalt und habe acht Geschwister. Ich kenne daher diese Wärme, diese Geborgenheit in der Familie und die engen Beziehungen untereinander. Auch deshalb hat mich diese Geschichte so interessiert, weil sie mir nicht fern war.

Es ist auch ein Film über Identität. Edgardo, lebendig und sensibel von Enea Sala gespielt, spürt in der katholischen Welt immer seine jüdischen Wurzeln, eine fast schizophrene Situation. Manchmal wurde ich beim Ansehen des Films wütend. Wie kann man einer liebenden Familie das Kind entreißen? Kann Religion Menschen zu solchen verbrecherischen Handlungen bringen, weil sie glauben, in guter Absicht zu handeln?
Papst Pius IX. war definitiv überzeugt von dem, was er tat. Aber er hat schwer gefehlt. Aus seiner Überzeugung heraus, dass der Junge ein getaufter Christ sei, hat er diesem Kind eine extreme, unglaubliche Gewalt angetan. Edgardo versuchte die ganze Zeit, mit der ursprünglichen Familie noch in Kontakt zu bleiben. Letztendlich litt er immer, war oft krank und kam nie richtig mit dem Leben klar. Der Papst hat all das ganz bewusst entschieden, weshalb es auch keine Entschuldigung geben kann. Denn er hat aus religiöser Überzeugung ein echtes Verbrechen begangen. Wir haben versucht, mit diesem Film starke Emotionen auszulösen und auf diese Weise auch die Ideen zu skizzieren, die hinter dieser Tat stehen. Das ist vor allem das Verdienst unseres kleinen Hauptdarstellers Enea Sala, der übrigens gar nicht religiös erzogen wurde. Er zeigt großartig das Leid und die Freuden eines Kindes, das seine Mutter liebt, aber in gewisser Weise eben auch den Papst.

Da gibt es sogar visuelle Parallelen, und zwar, wenn er sich im Rock der Mutter versteckt, wie später im Gewand des Papstes. Sie haben gerade das Wesen dieses eindringlichen Films beschrieben, nämlich, mit großen Emotionen zu Ideen zu kommen. Was genau wären das für Erkenntnisse?
Ich verspüre nicht wirklich den Drang, Botschaften zu verbreiten. Wenn man aber eine wichtige Idee aus diesem Film aufgreifen möchte, dann ist es die der Toleranz und der Hoffnung, dass wir uns einander nicht töten, sondern verstehen sollten. Das ist übrigens auch eine zutiefst christliche Idee, nur muss sie auch richtig gelebt werden. Das gilt für so viele Themen, mit denen wir gerade konfrontiert werden, beispielsweise die Tragödie in Israel, aber auch bei Fragen der Migration. Wir sollten einander anerkennen. Diese Toleranz gab es in der Geschichte damals nicht, aber sie würde der Menschheit heute sehr wohltun.

Mit dem italienischen Regisseur sprach Knut Elstermann.

Der Film »Die Bologna-Entführung« ist ab 16. November in deutschen Kinos zu sehen.

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