Architektur

Ringen um Sichtbarkeit

Ein Verein setzt sich für ihren vollständigen Wiederaufbau ein: die Synagoge Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg Foto: imago images / Schöning

Mit den aktuellen Überlegungen, die im November 1938 schwer beschädigten und später abgerissenen Synagogen am Fraenkelufer in Berlin und auf dem Bornplatz in Hamburg zu rekonstruieren, scheint in Deutschland eine neue Phase des Synagogenbaus zu beginnen.

Mittel In den vergangenen 70 Jahren waren derartige Projekte aus vielerlei Gründen ausgeschlossen: In den Nachkriegsjahrzehnten fehlten den Gemeinden Mitglieder und finanzielle Mittel. Die vormaligen Synagogengrundstücke kamen zudem in der Regel nicht wieder in ihren Besitz. Erhaltene Ruinen wurden – mit Ausnahme der Straßenfront der Synagoge Oranienburger Straße in Berlin – abgetragen.

Auch hatte die nichtjüdische deutsche Gesellschaft zunächst kein Interesse, ein sichtbar präsentes Judentum in ihren Städten zu etablieren. Gab es keine Gebäude in Gemeindebesitz, in denen Betsäle eingerichtet werden konnten, entstanden seit den 50er-Jahren Neubauten oft außerhalb der städtischen Zentren.

Rekonstruktionen waren keine Alternative, weil sich ein Anknüpfen an die Geschichte vor 1933 ausschloss.

Sie waren deutlich kleiner und verzichteten, abgesehen von Inschriften, auf Hinweise zu ihrer Nutzung.

Rekonstruktionen waren aber auch keine Alternative, weil sich ein über sie vermittelter Anschluss an die Geschichte vor 1933 für die Gemeinden ebenso wie für die nichtjüdische Gesellschaft ausschloss. Es galt zudem, wie für das Bauen der ersten Nachkriegsjahrzehnte insgesamt, der Wille, jeweils zeitgemäße Lösungen für Bauaufgaben zu finden.

bedarf Mit der Vervierfachung der Zahl von Gemeindemitgliedern infolge der Einwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach 1990 entstand ein Bedarf nach neuen oder auch größeren Synagogen und Gemeindebauten. Seit 1995 wurden allein 23 Neubauten eröffnet, der überwiegende Teil zwischen 2000 und 2010.

Daneben wurden bestehende Bauten zu Synagogen aus- und umgebaut, so zum Beispiel die ehemalige Lohmühle in Bad Segeberg oder die vormalige Nähseidenfabrik Kupfer, Hesslein & Co. in Bamberg. Einige Nachkriegssynagogen wurden erweitert.

Einige Gemeinden haben ihre Synagogen in ehemaligen Kirchen eingerichtet.

Schließlich, und dies kennzeichnet eine neue Entwicklung, die sich in den nächsten Jahren noch fortsetzen könnte, entschieden sich Gemeinden in Bielefeld, Cottbus, Hannover, Köln-Rhiel, Oldenburg und zuletzt in Unna, ihre Synagogen in ehemaligen Kirchen einzurichten, die dabei erhebliche Veränderungen in ihrer baulichen Substanz erfuhren.

Dabei ermöglichten die veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die auch andere Ansprüche an eine Erinnerungskultur hervorbrachten, Bauten in einer Architektursprache, die sich selbstbewusst von ihrer Umgebung unterschied.

symbole Dies zeigt sich zum einen in der sichtbaren Verwendung jüdischer Symbole als zentraler Bestandteil sowohl an den Fassaden als auch in den Gebäudeformen. Die prominentesten Beispiele hierfür sind die Synagogen in Duisburg und Mainz.

Erstere will auf die fünf Bücher Mose verweisen, die zweite nimmt den Begriff »Keduscha« und ein Schofar als Gestaltungsgrundlage. Dabei sind die Synagogenräume von außen nicht unmittelbar auszumachen.

Die Synagoge in Herford ist eine Vorläuferin heutiger Rekonstruktionsbestrebungen.

Eine zweite Tendenz in der Vielfalt der architektonischen Lösungen ist die Gestaltung des Betraums und des Gemeindezentrums als jeweils blockhafte Baukörper, die in eine Beziehung zueinander gesetzt werden. Die bekanntesten Beispiele stehen in Dresden, München und Bochum.

Dabei sind die Synagogen aufgrund ihrer Form, des verwendeten Materials sowie der Symbole von außen sofort vom Gemeindezentrum zu unterscheiden.

vielfalt Zwar sind alle diese Tendenzen bereits in den Gemeindebauten der 80er-Jahre angedeutet, aber erst mit den geänderten Vorzeichen der 90er-Jahre werden sie zum Prinzip und finden zu einer neuen Vielfalt.

Seit 2010 lässt sich mit der Synagoge in Herford aber auch eine Vorläuferin heutiger Rekonstruktionsbestrebungen ausmachen: Sie entstand am Ort des 1938 zerstörten Vorgängerbaus und nimmt dessen äußere Form und Materialität auf.

Anders als die geplanten Projekte in Hamburg und Berlin wurde der Neubau allerdings in seiner Bedeutung weniger symbolisch aufgeladen und wird vermutlich vor diesem Hintergrund heute öffentlich kaum wahrgenommen.

Mit den Synagogen der letzten 25 Jahre kehrte die Präsenz jüdischen Lebens in die Innenstädte zurück.

Auch die Funktionen, die Gemeindezentren übernehmen, haben sich verändert. Zunehmend werden Kindergärten eingerichtet, die Komplexe der Ohel-Jakob-Synagoge in München und der Neuen Synagoge in Bochum nehmen Restaurants auf, erstgenannter zudem ein Jüdisches Museum. Damit werden Räume integriert, die auch Nichtjuden Zugang außerhalb von organisierten Führungen bieten.

bruch Schließlich kehrte mit den Synagogen der letzten 25 Jahre die Präsenz jüdischen Lebens in die Innenstädte zurück. Oft konnten die Gemeinden dabei die Grundstücke ihrer vormaligen, im Nationalsozialismus zerstörten Synagogen wieder nutzen und auf diese Weise eine unmittelbare Beziehung zur eigenen Geschichte herstellen.

Gleichzeitig blieb der Bruch, den die Zerstörung der Gemeinden durch die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik geschaffen hatte, mit der Entscheidung für explizite Neubauten in einer Architektursprache der Gegenwart sichtbar. Diese Haltung stand, bis vor etwas mehr als zwei Jahren die Idee einer Rekonstruktion der Synagoge am Fraenkelufer bekannt gemacht wurde, für ein grundsätzliches Verständnis beim Umgang mit der Bauaufgabe.

Aktuell sind mindestens drei weitere Neubauprojekte in Planung: Die Synagogengemeinde Magdeburg erhielt nach langen Verhandlungen im November 2019 ein Grundstück von der Stadt, die Jüdische Gemeinde zu Dessau konnte im gleichen Monat den Grundstein für ihren Neubau legen.

In den kommenden Jahren werden, wenn auch seltener, weiterhin Synagogen gebaut.

Für den Neubau einer Synagoge in Potsdam fand schon 2008 ein Wettbewerb statt. Weil die Gemeinden, die den Komplex nutzen sollen, sich in einigen Fragen der Realisierung bisher nicht einigen konnten, ist die Umsetzung trotz Grundsteinlegung im November 2018 bisher nicht erfolgt.

Es ist anzunehmen, dass in den kommenden Jahren, wenn auch seltener, so doch weiterhin Synagogen errichtet werden. Sie werden weniger in steigenden Mitgliederzahlen begründet sein als vielmehr in dem Bedürfnis, zunehmend wieder getrennte Räume für orthodoxe und liberale Gemeinden zu haben.

Das derzeit bekannteste Beispiel ist vermutlich Hannover, wo es neben der 1963 eröffneten Synagoge in der Haeckelstraße seit 2009 das Gemeindezentrum Etz Chaim der Liberalen Jüdischen Gemeinde sowie seit 2013 ein Zentrum der Jüdisch-Bucharisch-Sefardischen Gemeinde gibt.

stille Insgesamt entstanden mit den Synagogen also selbstbewusste und sichtbare Solitäre. Während sie als Bauwerke Anerkennung fanden und vielfach mit Architekturpreisen ausgezeichnet wurden, unterblieb gleichzeitig eine kritische öffentliche Auseinandersetzung zum Beispiel zu Fragen nach der Nutzbarkeit und den Möglichkeiten einer Aneignung der expressiv gestalteten Räume für die Gemeinden.

Gegenstimmen bleiben in Hamburg eine Ausnahme und fehlen in Berlin gänzlich.

Auch mit Blick auf geplante Rekons­truktionen lässt sich eine auffällige Stille konstatieren: Während die großen Rekonstruktionsprojekte für »Altstädte«, Kirchen und Schlösser der vergangenen Jahrzehnte in Berlin, Dresden oder Frankfurt am Main von zum Teil erbittert geführten Diskussionen begleitet wurden und Fragen zu Identität, Gedächtnis und Geschichte aufwarfen, bleiben Gegenstimmen, und damit eine Auseinandersetzung mit dem sich abzeichnenden Wandel in der Gedenkkultur, in Hamburg eine Ausnahme und fehlen in Berlin gänzlich.

Nach wie vor stehen die Synagogenbauten als symbolischer Wille einer jüdischen Gemeinschaft, zu bleiben, und einer nichtjüdischen Gesellschaft, dies zu ermöglichen. Dabei bleibt aber die Diskrepanz zwischen einer erhöhten Sichtbarkeit durch Architektur auf der einen und Debatten um die Vermeidung einer solchen Sichtbarkeit nach antisemitischen Angriffen auf der anderen Seite vermutlich auch in den nächsten Jahren bestehen.

Die Autorin ist Architekturhistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg.

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