Péter Nádas

Reflexionen über das Schreiben

Péter Nádas wurde am 14. Oktober 1942 in Budapest geboren. Foto: picture alliance/KEYSTONE

Péter Nádas

Reflexionen über das Schreiben

Der ungarische Autor erhält den Berman-Preis – jetzt erscheinen ein neuer Roman und ein Essay-Band

von Alexander Kluy  22.10.2022 19:34 Uhr

»Mich interessiert, wie Bewusstsein entsteht. Und welche Bewusstseinsinhalte woher kommen.« Dies waren 2018 vielleicht die beiden Signalsätze in einem langen Interview, das Péter Nádas einem deutschen Radiosender anlässlich des Erscheinens seines Erinnerungsbandes Aufleuchtende Details gab.

Darin benannte Nádas auch das allererste, immer wiederkehrende Gedächtnisbild seines Lebens: durch die Luft fliegen. Flug, Leichtigkeit, Absturz. 1944, ein Mietshaus in Budapest, von Bomben getroffen. »Das Nacheinander der Bilder verklebt sich, die Reihenfolge ist nicht mehr zu ändern. Dann ist da kein kaltes Flammen mehr, kein Fallen, kein Oben, kein Unten. Da ist nur Einsturz.« So die Erinnerung des zweijährigen Nádas. Aber: Wie trügerisch ist tatsächlich Erinnern, wie zuverlässig eigenes Erleben?

Nádas spiegelt das Weltgroße in einer Mikro-Nussschale.

Sein Elternhaus war kommunistisch. Mit 16 war Nádas Vollwaise, die Mutter an Krebs gestorben, der Vater, in politisch morastige Intrigen verstrickt, hatte sich erschossen. Heute, 64 Jahre später, ist Nádas, im idyllischen Gombosszeg ansässig, einem Dorf im Dreiländereck Ungarn–Slowenien–Österreich, der wichtigste lebende Autor Ungarns. Seine Bücher sind Langkunstwerke. Aufleuchtende Details zählt 1280 Seiten, das Buch der Erinnerung 1312 Seiten, die Parallelgeschichten, an denen er 17 Jahre arbeitete, 1728 Seiten.

»Seit ich in der Nähe des gigantischen Wildbirnenbaums lebe, brauche ich mich nicht mehr fortzubewegen, um in die Ferne zu sehen oder in die Zeit zurückzublicken.« Der erste Satz von Leni weint, einer Essaysammlung von 2018, gab den Grundklang für ein intensives Betrachten der Welt vor. Die Idylle täuschte. Ging es Nádas doch um Krieg und Frieden, Kunst und Politik, den Wert von Geld und Arbeit, um Frieden und Moral.

Die drei Aufsätze, in Schreiben als Beruf jetzt in Buchform zusammengeführt, entstanden in den vergangenen drei Jahren. Den titelgebenden Essay verfasste Péter Nádas für den Kunstverein Wien, Haydn im Plattenbau für die Basler Joseph Haydn Stiftung im Zuge des 200-Jahr-Projekts »Haydn2032«. In den Farben der Dunkelheit schrieb er für das Magazin der Berliner Akademie der Künste.

SPRACHRHYTHMEN Haydn im Plattenbau kreist um den Komponisten. Feinsinnige Beschreibungen und Wendungen findet Nádas für das Œuvre Haydns. Und geht von dort nahezu unmerklich bewusst über zur Komposition von Absätzen, Sprachrhythmen, Satzperioden. Aus der Meditation über Haydn entwickelt sich das kunstvolle Porträt des toten Freundes und kunstvoll verspielten Romanciers Péter Esterházy. Noch skrupulöser: das essayistische Umkreisen des Schreibvorgangs.

Was wird zu Papier gebracht, was bleibt stehen, was wird gestrichen – und wie bleibt diese Leere weiterhin greifbar? Und wieso ist dies entscheidend und wichtig? Nádas’ nuancierte Reflexionen über das Schreiben, das »Bauen« von Romanen, zählen zum Intelligentesten, was seit Langem über diesen kreativen Vorgang geschrieben worden ist. Pflichtlektüre nicht nur für Nádas’ Publikum, sondern für alle, die selbst schreiben wollen, ob professionell oder nur für sich.

In den Farben der Dunkelheit: Das sind Gedanken des Autors als leidenschaftlicher Fotograf. Subtil und scharfsinnig räsoniert er über digitale und analoge Fotografie, über Abbildungstraditionen und Verflachung, über Licht wie über Buntheit. »Die Bündel der Sehnerven fühlen sich vom Licht angezogen, und es graut ihnen vor dem Licht, in jedem Moment erfassen sie die Natur und das Ausmaß der Anziehung und des Grauens, die Gehirnzellen speichern es. In die Dunkelheit treten sie immer gerne ein, selbst dann, wenn sie Angst haben. Die Überwindung der Angst ist schaurig anziehend.«

GEISTERWESEN Ein schauriges Dorf. Irgendwo in Ungarn. Ein Dorf mit Kolchosen, also nach 1945, und voll Angst und Neid und Infamie und Armut. In Nádas’ Schauergeschichten sprechen die einzelnen Figuren miteinander, sie räsonieren aneinander vorbei, sie rutschen ab in innere Monologe, die alle anderen mithören. Das dörfliche Leben ist bitter und hart. Die Vergnügungen? Oft schaurige Scherze. Es wird gehetzt, verspottet, kopuliert. Menschen sind Geisterwesen, die kurz harten Boden bearbeiten, um dann in diesem verscharrt zu werden. Die brabbelnde Welt: eine kurz leuchtende, verglimmende Erinnerung.

Nádas’ nuancierte Reflexionen über das Schreiben, das »Bauen« von Romanen, zählen zum Intelligentesten, was seit Langem über diesen kreativen Vorgang geschrieben worden ist.

Péter Nádas, dem am 24. Oktober in Stockholm der Berman-Literaturpreis für sein Werk Aufleuchtende Details verliehen wird, rollt einen kunstvoll gewobenen Sprachteppich aus, der in seiner Derbheit, seinem Sprachwirrwarr und in der Polyphonie an hochoriginelle Tonlagen erinnert, an Rabelais, den Italiener Carlo Emilio Gadda oder den Iren Máirtín Ó Cadhain.

Liest man zuerst die Gedanken übers Schreiben und dann den Roman, in dem die kaum merklichen Übergänge von innen nach außen nach innen, von mürrisch abweisender Natur zu mürrisch abweisender Nichtmitmenschlichkeit fein verfugt ineinander verschwimmen, realisiert man, dass dem im Gespräch auf jedes bewusst gesetzte Wort bedachten Autor ein atemberaubender Roman gelungen ist, eine profunde Spiegelung des Weltgroßen in einer Mikro-Nussschale.

Péter Nádas: »Schauergeschichten«. Roman. Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Rowohlt, Hamburg 2022, 576 S., 30 €
»Schreiben als Beruf«. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh und Heinrich Eisterer. Rowohlt, Hamburg 2022, 96 S., 18 €

Medien

»Besonders perfide«

Israels Botschafter wirft ARD-Korrespondentin Sophie von der Tann Aktivismus vor. Die Hintergründe

 18.07.2025

London

Kneecap und Massive Attack wollen andere israelfeindliche Bands unterstützen

Einige der Initiatoren einer neuen Initiative verherrlichten den palästinensischen und libanesischen Terror auf der Bühne. Andere verglichen das Vorgehen Israels gegen die Hamas mit dem Holocaust

von Imanuel Marcus  18.07.2025

Darmstadt

Literaturpreise für Dan Diner und Ilma Rakusa

Diner habe die Geschichte des Judentums immer wieder als »Seismograph der Moderne« verstanden, begründete die Jury die Wahl

 18.07.2025

Nachruf

Nie erschöpfter, unerschöpflicher Herrscher des Theaters

Claus Peymann prägte das Theater im deutschen Sprachraum wie nur wenige andere. Nun ist er in Berlin gestorben. Erinnerungen an einen Giganten der Kulturszene

von Christian Rakow  18.07.2025

Kulturpolitik

Weimer sieht autoritäre Tendenzen im Kulturbetrieb

Attacken auf das weltberühmte Bauhaus und steigende Judenfeindlichkeit: Nach Einschätzung von Kulturstaatsminister Weimer steht der Kulturbetrieb zunehmend unter Druck

von Katrin Gänsler  18.07.2025

Tournee

Bob Dylan auf drei deutschen Bühnen

Das Publikum muss sich bei den Vorstellungen der lebenden Legende auf ein Handyverbot einstellen

 18.07.2025

Marbach

Israelische Soziologin Eva Illouz hält Schillerrede

Illouz widme sich dem Einfluss wirtschaftlichen Denkens und Handelns und greife damit Widersprüche kulturgeschichtlich auf, hieß es

 17.07.2025

Musik

1975: Das Jahr großer Alben jüdischer Musiker

Vor 50 Jahren erschienen zahlreiche tolle Schallplatten. Viele der Interpreten waren Juden. Um welche Aufnahmen geht es?

von Imanuel Marcus  17.07.2025

Interview

»Eine Heldin wider Willen«

Maya Lasker-Wallfisch über den 100. Geburtstag ihrer Mutter Anita Lasker-Wallfisch, die als Cellistin das KZ Auschwitz überlebte, eine schwierige Beziehung und die Zukunft der Erinnerung

von Ayala Goldmann  17.07.2025 Aktualisiert