Debatte

Präzedenzloses Verbrechen

Foto: PR

Debatte

Präzedenzloses Verbrechen

Ein Sammelband analysiert die jüngsten Versuche, die Schoa unter postkolonialen Vorzeichen zu relativieren

von Marko Martin  30.06.2022 08:21 Uhr

Gibt es in Bezug auf die Schoa einen neuen »Historikerstreit«? Die Frage ist teilweise irreführend, suggeriert sie doch eine rein akademische Debatte. Doch die israelfeindliche und antisemitische BDS-Bewegung etwa hat längst Sympathisanten jenseits der universitären Strukturen. Davon zeugte Ende 2020 auch die verquaste »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«, in der zahlreiche hiesige Kulturinstitutionen wortreich den Beschluss des Bundestages, Veranstaltungen von BDS sowie Unterstützern nicht mit deutschen Steuerzahlermitteln zu subventionieren, als »Zensur« anklagten.

Die Attacke auf die Erinnerungspolitik, im Mai 2021 von dem australischen Genozidforscher Dirk Moses geritten, passt in dieses Bild: verschwörungstheoretisches Geraune und purer Hass, wie man es bis dato eher aus dem »Schluss mit dem Schuldkult«-Lager der Höcke-AfD kannte. Das institutionalisierte Erinnern an die Schoa sei, so Moses, in der Hand von »Hohepriestern«, die dem Volk einen »Katechismus« aufzwingen würden, um das nationale Gedächtnis in ein »Erlösungsnarrativ« zu zwingen. So weit, so widerlich.

ANALYSE Ein unlängst unter dem Titel Ein Verbrechen ohne Namen – Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust erschienener Sammelband belässt es freilich nicht bei der luziden Zurückweisung dieser Anschuldigungen und Insinuationen, sondern analysiert den Zusammenhang.

Wenn nämlich die Schoa, wie von Dirk Moses und seinen zahlreichen Adepten behauptet, lediglich ein »Genozid unter anderen« gewesen sei und in der Nachfolge deutscher Kolonialverbrechen stünde, grüßt Ernst Nolte nicht nur aus der Ferne. Eine »nahezu identische Argumentationsfigur« sieht der Historiker Dan Diner hier erneut auftauchen, hatte doch bereits 1986 Nolte in der »FAZ« in vorgeblicher Neutralität gefragt, was wohl »ursprünglicher« sei, »der Klassenmord der Bolschewiki oder der Rassenmord der Nationalsozialisten«.

Bei der Schoa ging es nicht um Ausbeutung, Diskriminierung, Landgewinn oder militärische Vorherrschaft.

Irre Ironie der Debattengeschichte: Während damals viele selbst erklärte Progressive die notwendige Zurückweisung der Nolte’schen Spekulationen sogleich dafür missbrauchten, die (nicht zuletzt von jüdischen Intellektuellen von Arthur Koestler über Manès Sperber bis Hannah Arendt frühzeitig thematisierten) Massenverbrechen des Stalinismus nun ihrerseits zu relativieren, so spendet ebenjenes Juste Milieu der heutigen »Neuinterpretation« des Holocaust umso entschiedener Beifall.

Denn für sie, modisch »antizionistisch« geeicht, ist der rhetorische Kollateralnutzen doch enorm: Wenn der nationalsozialistische Völkermord an den europäischen Juden lediglich in der Tradition von Kolonialverbrechen steht, wird es dann auch einfacher, auch das heutige Israel des »Kolonialismus« zu zeihen. Klingt abstrus, ist allerdings in vielen der »Postcolonial Studies« – in denen die Diskurs-Multiplikatoren von morgen ausgebildet werden – schon längst feste Lehrmeinung.

FAKTEN Die Autoren des Sammelbandes antworten indessen darauf nicht etwa mit Gegenpolemik, sondern setzen – von Jürgen Habermas und dem Holocaust-Forscher Saul Friedländer über Sybille Steinbacher, die Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts, bis zum Historiker Norbert Frei – den Zuschreibungen all jene Fakten entgegen, die doch eigentlich bekannt sein sollten und nun dennoch erneut ins Gedächtnis gerufen werden müssen.

Alle fünf Autoren sehen in der Blickerweiterung auf Kolonialverbrechen etwas Positives.

Denn nein, bei der Schoa ging es nicht zuvörderst um Ausbeutung, Diskriminierung, Landgewinn oder militärische Vorherrschaft. Als der penibel umgesetzte Plan, ein ganzes Volk vollständig auszulöschen und dabei (worauf Habermas hinweist) nicht etwa einen äußeren, sondern einen als »inneren Feind« Deklarierten zu vernichten, auf dass endlich nationale Erlösung sei, ist das Menschheitsverbrechen tatsächlich singulär.

Dan Diner betont: »Angesichts ubiquitär gültiger, kategorisch als gewiss geltender Annahmen über menschliches Verhalten – auch solche der niedersten Ins­tinkte – handelte es sich beim Holocaust um einen durch und durch grundlosen, um einen schier gegenrationalen Tod.«

blickerweiterung Ebenso wichtig: Alle fünf Autoren sehen in der gegenwärtigen Blickerweiterung auf die deutschen und europäischen Kolonialverbrechen etwas Positives, werten deren zahllose Opfer mitnichten als quasi »zweitrangig« ab – und wenden sich gerade deshalb gegen die Infamie, diese allzu lange Vergessenen nun aufzurechnen gegen die in der Schoa Ermordeten.

»Das Leiden jedes einzelnen Menschen ist unvergleichlich«, schreibt Saul Friedländer und erinnert an die Massenmorde an Tutsi, Armeniern, Hereros, Kongolesen, Kambodschanern, Sinti und Roma, Homosexuellen, an sowjetische Gefangene im NS-beherrschten Europa und an die Opfer des Stalinismus. »Der Unterschied liegt im historischen Kontext des Genozids. In diesem Sinne – und nur in diesem – ist der Holocaust besonders und tatsächlich präzedenzlos.«

Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher und Dan Diner: »Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust«. C.H. Beck, München 2022, 94 S., 12 €

Ehrung

Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland für Tamar Halperin

Die in Deutschland lebende israelische Pianistin ist eine von 25 Personen, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 1. Oktober ehrt

von Imanuel Marcus  18.09.2025

Ausstellung

Liebermann-Villa zeigt Architektur-Fotografien jüdischer Landhäuser

Unter dem Titel »Vision und Illusion« werden ab Samstag Aufnahmen gezeigt, die im Rahmen des an der University of Oxford angesiedelten »Jewish Country Houses Project« entstanden sind

 18.09.2025

Debatte

Rafael Seligmann: Juden nicht wie »Exoten« behandeln

Mehr Normalität im Umgang miteinander - das wünscht sich Autor Rafael Seligmann für Juden und Nichtjuden in Deutschland. Mit Blick auf den Gaza-Krieg mahnt er, auch diplomatisch weiter nach einer Lösung zu suchen

 18.09.2025

Kino

Blick auf die Denkerin

50 Jahre nach Hannah Arendts Tod beleuchtet eine Doku das Leben der Philosophin

von Jens Balkenborg  18.09.2025

»Long Story Short«

Die Schwoopers

Lachen, weinen, glotzen: Die Serie von Raphael Bob-Waksberg ist ein unterhaltsamer Streaming-Marathon für alle, die nach den Feiertagen immer noch Lust auf jüdische Familie haben

von Katrin Richter  18.09.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 18. September bis zum 2. Oktober

 18.09.2025

Fußball

Mainz 05 und Ex-Spieler El Ghazi suchen gütliche Einigung

Das Arbeitsgericht Mainz hatte im vergangenen Juli die von Mainz 05 ausgesprochene Kündigung für unwirksam erklärt

 18.09.2025

Hochstapler

»Tinder Swindler« in Georgien verhaftet

Der aus der Netflix-Doku bekannte Shimon Hayut wurde auf Antrag von Interpol am Flughafen festgenommen

 18.09.2025

Berlin

Mut im Angesicht des Grauens: »Gerechte unter den Völkern« im Porträt

Das Buch sei »eine Lektion, die uns lehrt, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten Menschen gab, die das Gute dem Bösen vorzogen«, heißt es im Vorwort

 17.09.2025