Lyrik

Politik und Liebe

Seine Gedichte wurden ästhetisch selten ernst genommen, ihre politischen Provokationen umso mehr. Zum 100. Geburtstag von Erich Fried

von Helmut Böttiger  02.05.2021 10:54 Uhr

Erich Fried Foto: ullstein bild - Brigitte Friedrich

Seine Gedichte wurden ästhetisch selten ernst genommen, ihre politischen Provokationen umso mehr. Zum 100. Geburtstag von Erich Fried

von Helmut Böttiger  02.05.2021 10:54 Uhr

Zu den verblüffendsten Eigenschaften von Erich Fried gehört, dass er dem kleinen und mit einer dezidiert linken Tradition ausgestatteten Wagenbach-Verlag mit einem einzigen Gedicht das Überleben garantierte, über viele Jahre hinweg.

Der Text mit dem unscheinbar daherkommenden Titel »Was es ist« ist mittlerweile in vielen Auswahlbänden, Anthologien und Schmuckausgaben verbreitet, und schon, wenn man die erste Strophe liest, ahnt man, worin der unfassbare Zauber liegen könnte: »Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe«.

Strophen Die beiden letzten Zeilen wiederholen sich refrainartig auch am Schluss der beiden folgenden Strophen, und sie erklären, warum dieses Gedicht seit seiner Erstveröffentlichung 1983 in Frieds Band mit dem selbstverständlichen Titel Es ist was es ist in unzähligen Poesiealben von Schülerinnen, in unendlich vielen Widmungen, Geschenkschleifchen und handschriftlich geschriebenen Grußkarten verbreitet worden ist. »Es ist Unglück / sagt die Berechnung / Es ist nichts als Schmerz / sagt die Angst / Es ist aussichtslos / sagt die Einsicht / Es ist was es ist / sagt die Liebe«: Hier ist in schlicht wirkenden Worten etwas ausgedrückt, was im Grunde gar nicht ausgedrückt werden kann, und auch, wenn viele Lyrikexegeten Fried immer belächelt und seinen Gedichten einen ästhetischen Eigenwert gerne abgesprochen haben – diese Zeilen schließen Kitsch, Banalität oder Sentimentalität aus. Sie scheinen eine Wahrheit auszusprechen, die vorher noch nie so einfach ausgesprochen wurde und die dennoch hochkomplex wirkt.

In seinen besten Texten ist Fried so etwas gelungen. Der späte Ruhm durch seine Liebesgedichte verdeckte fast, dass Fried im Laufe der 60er-Jahre als politisch attackierender Schriftsteller auf sich aufmerksam gemacht hatte und durch seine schonungslosen Positionierungen auch stark polarisierte. Die Wurzeln dafür sind sicher in seinen grundlegenden Erfahrungen als Heranwachsender zu finden. Fried hat in seinen Erinnerungen Mitunter sogar Lachen 1986, zwei Jahre vor seinem Tod, vieles davon erzählt.

Fried stand bedingungslos auf der Seite der Verfolgten – emotional und angreifbar.

Erich Fried wurde am 6. Mai 1921 in Wien als einziges Kind einer jüdischen Familie geboren. Sein Vater war Spediteur, seine Mutter Grafikerin. Der Schlüsselmoment seiner Biografie bestand darin, dass sein Vater im Mai 1938 an den Folgen eines Verhörs durch die Gestapo starb. Der Sohn floh daraufhin auf komplizierten Wegen nach London, engagierte sich dort für die Interessen der Emigranten und für die Rettung gefährdeter europäischer Juden.

Es gelang ihm dabei auch, seine Mutter nach England zu holen. Zentral wurde Frieds Tätigkeit als politischer Kommentator für den »German Service« der BBC von 1952 bis 1968. Er wurde dadurch zu einem frühen Ansprechpartner für Dichter wie Paul Celan oder Ingeborg Bachmann, die ihn schon Anfang der 50er-Jahre in London besuchten, und er begann, in den bundesdeutschen Literaturbetrieb einzugreifen.

1963 nahm er zum ersten Mal an einer Tagung der »Gruppe 47« teil und wurde dort zu einem gefragten Diskussionspartner. 1964 machte er mit seinem Buch Warngedichte auch für einen weiteren Kreis als Dichter auf sich aufmerksam. Hier war sein didaktischer, moralisch eindringlicher Ton schon sehr deutlich zu vernehmen.

vietnamkrieg Richtig berühmt wurde Fried dann mit dem Gedichtband und VIETNAM und aus dem Jahr 1966. Es handelt sich um 41 Texte zum Vietnamkrieg der USA, die mit Nachrichtenmeldungen, Zeitungsausschnitten und konkreten Fakten und Zitaten aus dem Kriegsgeschehen arbeiten und prononciert umsetzen, was sich der Autor schon früh anlässlich der Ermordung seines Vaters programmatisch vorgenommen hatte: eindeutig für die Unterdrückten Partei zu ergreifen, unbeirrbar gegen das Unrecht und für Gerechtigkeit zu kämpfen.
Heftig umstritten – und zwar vollkommen zu Recht – war sein Gedicht »Höre, Israel«.

In präzisen Formulierungen entlarvte er, als radikaler Humanist, die Manipulation durch Medien, die journalistische Anfälligkeit für Effekte und Korruption, die Lügen der Propaganda. In der legendären Reihe der schwarzen »Quarthefte« des Verlags von Klaus Wagenbach veröffentlichte Fried in kurzen Abständen etliche weitere Gedichtbände, die Anfechtungen hießen, Die Beine der größeren Lügen oder Die Freiheit den Mund aufzumachen: Lyrik, die in aktuelle politische Auseinandersetzungen eingriff, mit pointierten, knappen Formeln in der Tradition Brecht’scher Lehrgedichte. Es handelte sich ganz gezielt um Gebrauchslyrik für den Tagesbedarf. Fried erwies sich in vielen seiner Gedichte als versierter Rhetoriker, der keine unnötigen Schnörkel machte und alles Nebensächliche wegließ.

Seine Gedichte wurden ästhetisch zwar selten ernst genommen, ihre politischen Provokationen dafür umso mehr. Fried bot des Öfteren Anlass zu Kontroversen. In einem Leserbrief an das Magazin »Der Spiegel« bezeichnete er die Erschießung des militanten Linksanarchisten Georg von Rauch bei einem Polizeieinsatz als »Vorbeugemord« und wurde deshalb vom West-Berliner Polizeipräsidenten wegen Beleidigung angezeigt. Das Verfahren endete, nicht zuletzt wegen der Aussage des Gutachters Heinrich Böll, mit einem Freispruch.

Ähnlich polemisch und konfrontativ reagierte Fried 1977 auf die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback durch die »Rote Armee Fraktion«: Er wandte sich nicht nur gegen den Terror der RAF, sondern auch gegen die Verlautbarungen der Politik und der Medien. Gemeinsam mit Heinrich Böll lehnte er die offizielle »Sympathisantenhetze« ab, die generell eine kritische Gesellschaftsanalyse zu verhindern suchte. »Was er für Recht hielt / hat Menschen / schaudern gemacht«, heißt es in dem Gedicht »Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback«, und besonderen Anstoß erregte sein dialektisch gemeinter Schluss, der sich gegen staatliche Heuchelei wandte: »Es wäre besser gewesen / so ein Mensch / wäre nicht so gestorben // Es wäre besser gewesen / ein Mensch / hätte nicht so gelebt«.

zeigefinger Fried praktizierte den agitatorischen Stil, der die Weimarer Republik geprägt hatte und den er plakativ und ungestüm auch in der Bundesrepublik einsetzen wollte. Er war ein Dichter, der äußerst sensibel auf Machtanmaßungen staatlicher Stellen reagierte, der die einschlägige Tradition deutscher Behörden anprangerte und bedingungslos auf der Seite der Verfolgten stand – undogmatisch, frei schwebend und emotional, aber auch angreifbar.

Seine Gedichtproduktion war enorm und gab mit ihrem Fließbandcharakter auch Anlass zu Kritik. Fried reagierte zuverlässig auf fast alles, seine Veröffentlichungen sind kaum zu zählen, und besonders heiklen Themen widmete er sich auch mit besonderer Inbrunst. Er veröffentlichte beileibe nicht nur im Wagenbach-Verlag.

»Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe«.
Erich Fried

Heftig umstritten – und zwar vollkommen zu Recht – war zum Beispiel auch sein Gedicht »Höre, Israel«, das er 1974 in einem gleichnamigen Band des Hamburger Verlags »Association« veröffentlichte und das den israelisch-palästinensischen Konflikt thematisiert: »Als wir verfolgt wurden, / war ich einer von euch. / Wie kann ich das bleiben, / wenn ihr Verfolger werdet? // Eure Sehnsucht war, / wie die anderen Völker zu werden / die euch mordeten. / Nun seid ihr geworden wie sie«.

Lyrik Frieds politische Lyrik schien durch seine biografischen Erfahrungen als Jude, durch Verfolgungen und das existenzielle Gefühl politischer Ohnmacht immer auch beglaubigt zu sein. Gegen Ende der 70er-Jahre begannen sich aber allmählich die Stimmen zu mehren, die seine didaktische Moral, seine Zeigefingerhaftigkeit nicht nur ästhetisch ablehnten, sondern generell für nicht mehr sonderlich zeitgemäß hielten.

Fried indes hielt kompromisslos an seinem Einsatz für zu Unrecht Angeprangerte fest. Vor allem, wenn er auf antisemitische Äußerungen stieß, waren seine Stellungnahmen eindeutig. Er stellte sich offensiv vor Autorinnen wie etwa Anne Duden, wenn in Literaturkritiken die jüdische Dimension eines Textes verkannt wurde.

Die andere Seite seiner unbedingten Moralität war auch eine außergewöhnliche Zartheit und Einfühlungsgabe, und in seinem berühmtesten Gedicht wird das auf bezwingende Weise beredt: »Es ist lächerlich / sagt der Stolz / Es ist leichtsinnig / sagt die Vorsicht / Es ist unmöglich / sagt die Erfahrung / Es ist was es ist / sagt die Liebe«.

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