Porträt

Politik nach Noten

Bei der Arbeit: Luca Lombardi Foto: Kai Michalak / Fotoetage

Porträt

Politik nach Noten

Der italienische Komponist Luca Lombardi nähert sich seinem Judentum und Israel musikalisch

von Tobias Kühn  12.10.2010 18:35 Uhr

Selten ist Italiens Geschichte akustisch so weit nach Norden vorgedrungen. Wer in den vergangenen Wochen am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst, einer kleinen Stadt bei Bremen, vorüberging, konnte aus einem der Fenster einen Lob- und Klagegesang auf Bella Italia hören. »Italia mia, dilecto almo paese, i’vo gridando: pace, pace, pace«, ertönen Petrarcas Worte – werden aber sogleich vom norddeutschen Herbstnebel verschluckt. Drinnen im Kolleg sitzt Luca Lombardi am Klavier und singt die fremden Weisen. Vor ihm auf dem Pult liegt ein mit Bleistift beschriebenes Notenblatt.

An mehreren Stellen sind ganze Takte durchgestrichen und andere Noten darübergekritzelt. »Es ist noch nicht fertig«, sagt Lombardi und lächelt ein wenig verlegen. Der 65-Jährige ist Komponist und arbeitet an einem Auftragswerk zum 150. Jubiläum der italienischen Einheit. Die Mailänder Scala hat es bestellt, nächstes Jahr ist die Uraufführung.

Drei Monate lang lebt Lombardi, ein kleiner Mann mit grauem Bürstenschnitt, als »Artist in Residence« im Hanse-Kolleg. Tag für Tag sitzt er stundenlang am Klavier, baut Töne zusammen, erschafft Musik. Auf seinem Gästebett hat er riesige Bögen Notenpapier ausgebreitet, die braucht er zum Orchestrieren, wenn er die Melodien der einzelnen Stimmen komponiert. Er spielt eine kleine Sequenz am Klavier, dann springt er auf, zeichnet nebenan ein paar Noten ein und hetzt zurück ans Klavier.

Strohfeuer Seine raschen Bewegungen verleihen ihm auch mit 65 noch eine Spur Jugendlichkeit. Manchmal, wenn über sein Gesicht ein Lächeln huscht, lässt sich erahnen, wie er als Neunjähriger ausgesehen hat, damals, als er in der großen Wohnung seiner Eltern in Rom hinter einem Vorhang das Klavier entdeckte. Er begann sogleich zu klimpern und fand helle Freude daran. Doch die Mutter hielt das Ganze für ein Strohfeuer, so wie das Briefmarkensammeln, das er kurz zuvor nach drei Monaten wieder aufgegeben hatte.

Nein, in die Wiege sei ihm die Musik nicht gelegt worden, sagt Lombardi und lächelt ein wenig gequält. Doch fand er einen Förderer in seinem Klassenlehrer an der deutschen Schule in Rom. Allerdings hält Lombardi es bis heute für unverantwortlich, dass seine Eltern ihn 1955 ausgerechnet dort einschulten: »Ich konnte doch kaum Deutsch, und bestimmt waren etliche der Lehrer alte Nazis.« Die Eltern – der Vater ein bekannter Philosophieprofessor, die jüdische Mutter Lehrerin und Abgeordnete im italienischen Parlament – meinten, die deutsche Schule sei besser als die italienische.

Nach dem Abitur studiert Lombardi Komposition in Rom, Wien und ab 1968 in Köln. Dort entfaltet sich unter Karlheinz Stockhausen gerade die Neue Musik. Aber der römische Student versteht sich nicht mit Stockhausen. »Er war nicht nur egozentrisch, sondern auch unpolitisch. Ich hingegen war Marxist, leitete den Chor der Kölner IG Metall.«

Ost-Berlin Anfang der 70er-Jahre begegnet Lombardi den Schriften Hanns Eislers und erfährt, »dass dieser politisch motivierte Musik machte«. Und da der Student seit Jahren von seinem Vater gedrängt wird, zu promovieren, knickt er schließlich ein: Jetzt hat er ein Thema gefunden. Lombardi bewirbt sich in Ost-Berlin bei dem Komponisten Paul Dessau als Meisterschüler – und hat Erfolg. »Ich war zwar Kommunist, aber es war schon seltsam, deshalb gleich dort hinzugehen.« Umso erstaunter ist der junge Mann, als Dessau ihn am Bahnhof eines Ost-Berliner Vororts mit seinem Mercedes abholt.

Darüber, dass sie beide Juden waren, redeten die Marxisten kein einziges Mal. »Es wäre interessant gewesen, mit ihm darüber zu sprechen«, sagt Lombardi heute und nickt bedächtig. Inzwischen hat er sich längst vom Marxismus entfernt. »Damals habe ich an eine lineare Geschichtsentwicklung geglaubt. Aber meine Beschäftigung mit der Musik hat mir gezeigt, dass dies falsch ist.«

Die Musik war es auch, die ihn allmählich zu seinen jüdischen Wurzeln führte. Vor rund 25 Jahren vertonte er zum ersten Mal einen hebräischen Text, danach schrieb er Stücke, die mit der jüdischen Tradition zu tun hatten. Der große Wendepunkt allerdings ereignete sich 2003, als Lombardi zum ersten Mal nach Israel reiste. »Ich fragte mich: Warum erst jetzt? Ich hätte doch immer hinfahren können, hatte ja oft sogar Einladungen dorthin.«

Staatsbürgerschaft Diese Reise hat etwas in Bewegung gesetzt, das bis heute nicht abgeschlossen ist, aber seinen vorläufigen Höhepunkt darin gefunden hat, dass Lombardi vor zwei Jahren die israelische Staatsbürgerschaft annahm. »Ich wollte ein Zeichen setzen gegen die antiisraelische Haltung, die sich in meiner Umgebung breitmacht.« Mit manchen Freunden, die ihm geradezu ins Gesicht sagten, dass sie es besser fänden, wenn es den jüdischen Staat nicht gäbe, hat er inzwischen gebrochen.

Umso glücklicher ist er, dass er in Israel, seinem zweiten Wohnsitz, Freunde gefunden hat. Derzeit denkt Lombardi über eine weitere Oper nach, seine fünfte. Er will sie nach dem Roman des israelischen Schriftstellers David Grossman komponieren: Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Aber das ist Zukunftsmusik. Zuerst muss Italien 150 werden.

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