Es kommt nicht häufig vor, dass eine Dissertation nach mehr als 50 Jahren den neuesten wissenschaftlichen Standards noch entspricht. Als Monika Richarz 1970 ihre Doktorarbeit über den »Eintritt der Juden in die akademischen Berufe« eingereicht hatte, konnte sie nicht ahnen, dass ein halbes Jahrhundert später ein Philosoph aus Indien sie (mit weit über 80 Lebensjahren) bitten würde, ihre Arbeit ins Englische übersetzen zu dürfen.
2022 erschien dann German Jews and the University, 1678–1848. Die Bewertung der Arbeit durch unabhängige amerikanische Gutachter hatte ergeben, dass Richarzʼ Dissertation von 1970 keinerlei Aktualisierungen bedurfte.
Am Montag erhielt Monika Richarz in Berlin den Moses Mendelssohn Award des Leo-Baeck-Instituts für ihr Lebenswerk im Bereich der deutsch-jüdischen Geschichte. »Sie leistete Pionierarbeit«, schreibt das Institut in seiner Begründung. Monika Richarz sei zudem eine der ersten Frauen, die sich intensiv der Erforschung und Vermittlung dieser Thematik widmete.
Mit Krücke und einem verschmitzten Lächeln nahm Monika Richarz den Preis im Jüdischen Museum Berlin entgegen, zog das Mikrofon zu sich heran und schaute gerührt in den bis zum letzten Stuhl besetzten Saal: Weggefährten und Kolleginnen, Freunde und Familie waren auch von weit her angereist. Die Historikerin nutzte ihre Dankesrede, »um sich selbst zum historischen Gegenstand zu machen«, und erzählte aus ihrem Leben.
Monika Richarz wurde 1937 in Berlin geboren. Als sie in den 50er-Jahren begann, an der Freien Universität Geschichte zu studieren, wusste sie kaum etwas über Juden. »Darüber sprach man nicht unter Deutschen.« Eine Reise nach Polen und zu den Orten der Nazi-Gräueltaten bewegte die 21-jährige Studentin dazu, das wohl einzige Seminar in ganz Berlin aufzusuchen, das sich in einer Zeit des großen Schweigens dem deutschen Judentum widmete: Bei dem jüdischen Gastprofessor Adolf Leschnitzer, der jedes Sommersemester von New York nach Berlin reiste, lernte Richarz über das jüdische Leben in Deutschland lange vor der Schoa.
Man muss kein Dreieck sein, um Mathematik zu studieren
Allein in »jüdischer Wüste«, wie Richarz es nennt, wandte sie sich an einen aus Israel stammenden Kommilitonen, der ihr mit seinem Wissen über das Hebräische und die religiöse Praxis weiterhalf. »Einen besseren Doktorvater als meinen Mitstudenten Amos hätte ich mir nicht wünschen können«, sagt die Historikerin.
Amos Funkenstein war es, der die junge Deutsche motivierte, weiterzuforschen, auch wenn ihr ständig die Frage um die Ohren flog, ob sie denn Jüdin sei – denn, so impliziert, warum sollte sie sich sonst so sehr in diesen Stoff vertiefen? Amos aber hatte die passende Antwort parat: Man müsse doch auch kein Dreieck sein, um Mathematik zu studieren.
Große Dankbarkeit, sagt Richarz, empfinde sie gegenüber Leschnitzer, Funkenstein und allen anderen, die sie auf ihrem akademischen Weg begleiteten. Nach ihrer Dissertation wälzte sie sieben Jahre Manuskripte am Leo Baeck Institute in New York und verfasste eine Sozialgeschichte der Juden in Deutschland in drei umfassenden Bänden.
Die Historikerin Marion Kaplan saß ihr dabei am großen Tisch der Bibliothek gegenüber und führte die Kollegin in ihre Überlegungen zur »Frauengeschichte« ein, für die Richarz schon immer ein natürliches Auge hatte: »Sie schrieb über Frauen und Männer, über den reichen Juden in der Stadt und den armen Viehhändler auf dem Land«, erzählte Kaplan im Jüdischen Museum Berlin. Die heutige Professorin hielt die Laudatio.
Richarzʼ New Yorker Bände avancierten schnell zum Klassiker. Zurück in Deutschland, übernahm sie die Leitung der Germania Judaica in Köln und später des Hamburger Instituts für die Geschichte der deutschen Juden. Ihre Berentung, scherzt Kaplan, bedeutete für Richarz nur die Fortführung ihrer Arbeit: Mit ihrer »endless energy« sei sie bis heute eine Mentorin für eine neue, größere Generation von Forschenden zur deutsch-jüdischen Geschichte.