Gedenken

Erich Salomon: Pionier der Pressefotografie

Gestellte Bilder, auf denen Politiker staatstragend gucken? Das war nicht sein Ding

von Jürgen Prause  07.07.2024 09:18 Uhr

Eine Familienunterkunft für Einwanderer auf Ellis Island (New York), um 1932 fotografiert von Erich Salomon Foto: picture-alliance / akg-images

Gestellte Bilder, auf denen Politiker staatstragend gucken? Das war nicht sein Ding

von Jürgen Prause  07.07.2024 09:18 Uhr

Er braucht nicht nur Geduld und Stehvermögen, sondern auch Chuzpe, um an seine Bilder zu kommen. Als deutsche und französische Minister in Den Haag über die deutschen Kriegsschulden verhandeln, steht Erich Salomon (1886-1944) stundenlang hinter einem Wandschirm und fotografiert unbemerkt. Auf einer der Aufnahmen sieht man, wie einige Minister zu nächtlicher Stunde bereits tief in ihre Sessel gesunken und eingenickt sind.

Die Episode im Januar 1930 kennzeichnet die Arbeitsweise des Bildjournalisten Erich Salomon, der vor 80 Jahren in Auschwitz ermordet wurde. Der französische Außenminister Aristide Briand nannte ihn einmal scherzhaft den »König der Indiskretionen«. So erzählt es Salomon in seinem 1931 erschienenen Bildband »Berühmte Zeitgenossen in unbewachten Augenblicken«. Oft fotografiert er mit »versteckter Kamera« oder greift zu einer List, um sich Zutritt zu verschaffen.

Erich Salomon zählt zu den Pionieren der Pressefotografie und gilt als einer der Begründer der modernen Bildreportage. Anfang der 30er Jahre hat er es zu internationaler Bekanntheit gebracht, obwohl er erst seit 1928 als professioneller Fotograf tätig ist. Populäre Massenblätter wie die »Berliner Illustrirte Zeitung« nutzen das noch junge Medium Fotografie, um ihre Auflagen zu steigern. Auch Salomon hat erkannt, dass das Bild zu einem der wichtigsten Faktoren im Journalismus geworden ist und »eine ganz andere Wirkung als der nackte Text« hat.

Unbekannte Intensität

Rasch macht er sich einen Namen als Bildberichterstatter. Seine Fotos seien »von einer bis dahin völlig unbekannten Intensität und Intimität des Blicks geprägt«, so das Urteil des Fotoexperten Janos Frecot. Damit habe Salomon den Bildjournalismus »auf ein neues Niveau« gehoben. Sein sicheres Auftreten und seine gesellschaftliche Gewandtheit sind laut Frecot Teil seines Erfolges. Zu vielen Terminen erscheint er im Frack oder im Smoking.

Salomon, am 28. April 1886 in Berlin geboren, entstammt einer wohlhabenden jüdischen Bankiersfamilie. Als Fotograf ist der promovierte Jurist ein begabter Quereinsteiger. Er hat sich zuvor unter anderem als Taxiunternehmer und als Werbefachmann im Ullstein-Verlag versucht. Seinen Durchbruch als Pressefotograf erlebt er 1928 bei einem Prozess gegen einen Polizistenmörder. Heimlich fotografiert er im Gerichtssaal. Seine Kamera hat er unter einem Hut verborgen, in den er ein Loch für das Objektiv geschnitten hat.

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Ob im Reichstag, auf internationalen Konferenzen oder bei Sitzungen des Völkerbundes in Genf, stets ist der Mann mit der Halbglatze und dem wachen Blick hinter der runden Hornbrille auf der Jagd nach einem gelungenen Schnappschuss. Er verzichtet auf die üblichen gestellten Fotos von Personen in steifer Pose. Salomon beherrscht die Kamera und nutzt die modernste verfügbare Technik. Neue Fotoapparate mit lichtstarken Objektiven ermöglichen ihm Bilder in geschlossenen Räumen ohne Blitzlicht.

Viel beachtet

Seine Schwarzweißaufnahmen sind ein Panorama der späten Weimarer Republik. Neben prominenten Politikern nimmt er Künstler und Intellektuelle auf – wie den Maler Max Liebermann, den Theaterkritiker Alfred Kerr, den Komponisten Richard Strauss und den Dirigenten Wilhelm Furtwängler. Bei Reisen nach England und in die USA entstehen viel beachtete Aufnahmen, etwa vom Boxer Max Schmeling oder der Filmschauspielerin Marlene Dietrich.

Als die Nationalsozialisten im Januar 1933 an die Macht kommen, bedeutet das eine jähe Zäsur für die berufliche Existenz des jüdischen Fotografen. Zusammen mit seiner aus den Niederlanden stammenden Frau Maggy und dem jüngeren Sohn Dirk geht er ins Exil nach Den Haag. Nach einer längeren Zeit der Krankheit und Depression gelingt ihm ein beruflicher Neustart, er erhält wieder Aufträge. Als erster Bildjournalist bekommt er 1936 die Erlaubnis, Debatten im niederländischen Parlament zu fotografieren. Sogar vom Königshaus darf er Fotos machen.

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Doch Salomons Comeback als Fotograf ist nicht von Dauer. Die Besetzung der Niederlande durch Hitlers Truppen im Mai 1940 beendet endgültig seine Arbeitsmöglichkeiten. Die Familie muss untertauchen, wird 1943 von der Gestapo aufgespürt und verhaftet. Über die Umstände ihrer letzten Lebensphase und Deportation ist wenig bekannt. Über Westerbork und Theresienstadt führt ihr Weg in die Gaskammern von Auschwitz. Das Rote Kreuz vermerkt den 7. Juli 1944 als Tag der Ermordung von Erich Salomon. Er wird nur 58 Jahre alt.

Erheblicher Teil

Als einziges Familienmitglied überlebt Salomons älterer Sohn Peter Hunter (eigentlich Erich Otto Salomon, 1913-2006) in London den Holocaust. Er kann nach dem Krieg einen erheblichen Teil des von Erich Salomon versteckten Bildmaterials retten. Das Land Berlin hat Salomons fotografischen Nachlass 1980 erworben.

In der Fotografischen Sammlung der Berlinischen Galerie werden mehr als 10.000 Glas- und Filmnegative, Diapositive und Reproduktionen aufbewahrt und wissenschaftlich erschlossen.

Vor der langjährigen Wohnung der Familie Salomon in der Hölderlinstraße 11 in Berlin-Charlottenburg erinnert seit 2006 ein Stolperstein an den berühmten Fotografen. Zum Andenken an ihn vergibt die Deutsche Gesellschaft für Photographie jährlich den Dr. Erich Salomon-Preis.

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