Geschichte

Patriotismus und Ernüchterung

Im ersten Kriegsjahr noch kaisertreu: jüdische Soldaten beim Feldgottesdienst Foto: ullstein

Als Wilhelm II. zu Kriegsbeginn am 4. August 1914 erklärte: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche!«, weckten diese Worte im jüdischen Bevölkerungsteil die Hoffnung, dass eine neue Zeit anbrechen würde. Indem man sich freiwillig zum Kriegsdienst meldete, hoffte man, dass die noch vorhandenen antijüdischen Vorbehalte endgültig verschwinden würden. Wie das Bildungsbürgertum und die Arbeiterschaft wurden auch die Juden von einer Woge »rauschhaften Gemeinschaftsgefühls und patriotischer Kriegsbegeisterung« (Egmont Zechlin) ergriffen. Mancher vergaß über Nacht das klassisch-humanistische Bildungsgut, in dem er erzogen worden war, und mutierte zum kompromisslosen deutschen Nationalisten.

Im Sommer 1914 ließ auch der Maler Max Liebermann im patriotischen Überschwang die Kaiserdeutschen die Säbel gegen den Feind schwingen. »Jetzt wollen wir sie dreschen!«, lautete seine Parole. Der Theaterkritiker Alfred Kerr, der später vor den Nazis flüchtete, polemisierte mit Schmähgedichten gegen den Feind, in diesem Fall gegen die Russen. »Zarendreck, Barbarendreck«, reimte er, »Peitscht sie weg! Peitscht sie weg!!«. Und der Publizist Maximilian Harden stellte bei Kriegsausbruch seine Zeitschrift »Die Zukunft« ganz in den Dienst der nationalen Propaganda.

Tatsächlich schien sich am Anfang des Krieges ein patriotischer Konsens zwischen den deutschen Juden und ihren Landsleuten herauszubilden. Als Beleg könnte man das Manifest der Dreiundneunzig ansehen, ein Aufruf »An die Kulturwelt«, in dem Vertreter der deutschen Wissenschaft und Kultur die Vorwürfe der Kriegsgegner bestritten und zur Solidarisierung mit Deutsch- land aufriefen. Zu den jüdischen Unterzeichnern gehörten neben Max Liebermann der Regisseur Max Reinhardt und der Medizin-Nobelpreisträger Paul Ehrlich.

hassgesang Zu einem der populärsten Kriegslieder wurde Ernst Lissauers »Haßgesang gegen England«: »Dich werden wir hassen mit langem Haß/Wir werden nicht lassen von unserem Haß,/ ... /Sie lieben vereint, sie hassen vereint,/Sie haben alle nur einen Feind: England!«. Die Begeisterung für dieses Gedicht war so groß, dass Schulkinder es auswendig lernen mussten. Es ist viel darüber gerätselt worden, warum es gerade ein Jude war, der das »Evangelium eines übersteigerten Nationalismus« (Egmont Zechlin) dichterisch verkündete. Ernst Lissauer, den Wilhelm II. mit dem Roten Adlerorden 2. Klasse ehrte, war »gläubiger an Deutschland als der gläubigste Deutsche« (Stefan Zweig). Gleichzeitig war er stolz auf sein Judentum und darauf, dass er nicht die Taufe angenommen hatte.

Die Kriegsbegeisterung ergriff gesetzestreue Juden ebenso wie die Anhänger der Reform, Linksstehende wie Rechtskonservative. Allerdings waren nicht alle Intellektuellen vom Krieg angetan. Der Philosoph Franz Rosenzweig schrieb etwa seinen Eltern am 9. September 1914, »wie widerwärtig« ihm die »ganze Menschenschlächterei« sei. Auch die Freunde Walter Benjamin und Gerhard (Gershom) Scholem machten kein Hehl daraus, dass sie den Krieg ablehnten und sich vom Patriotismus ihrer Glaubensbrüder abgestoßen fühlten. »Ob unsere Interessen«, so Scholem, »mit denen Deutschlands konform sind, ist eine Frage, über die sich durchaus streiten lässt.«

Gerücht Von ihrer Loyalität konnten die Juden ihre Mitbürger am Ende doch nicht überzeugen. Sie machten die Erfahrung, dass die nichtjüdische Gesellschaft ihnen weiterhin mit Misstrauen begegnete. Dies umso mehr, als der erwartete schnelle militärische Sieg ausblieb. Verantwortlich wurden nicht der Kaiser und die Oberste Heeresleitung gemacht, sondern »dunkel-dämonische Mächte«. Gemeint waren die Juden. Bald kursierte das Gerücht, sie würden ihren patriotischen Pflichten nicht nachkommen und sich mit allen möglichen Vorwänden vor dem Dienst an der Front »drücken«.

Schon im zweiten Kriegsjahr verschärften sich die antisemitischen Kampagnen, die sich vor allem gegen jüdische Geschäftsleute, Ladenbesitzer, Bankiers und Politiker richteten. Bösartige Reime waren zu hören wie etwa: »Wo so viele Helden bluten,/drücken sich jetzt nur die Juden./Überall grinst ihr Gesicht,/ nur im Schützengraben nicht«. Juden, so hieß es, würden ihr Geld und ihre Beziehungen nutzen, um in Schreibstuben, Etappenkommandos und auf Büroposten bequem durch den Krieg zu kommen.

Der Druck judenfeindlicher Reichstagsabgeordneter und die Hetze antisemitischer Vereinigungen wie des »Reichshammerbunds« oder des »Alldeutschen Verbands« führten dazu, dass das Kriegsministerium im Oktober 1916 einen Erlass herausgab, in dem alle militärischen Dienststellen aufgefordert wurden, eine »Judenstatistik« (amtlich: »Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden«) anzulegen. Folgende Fragen sollten beantwortet werden: Wie viele Juden haben sich freiwillig gemeldet? Wie viele sind an der Front gefallen? Wie viele wurden mit dem EK I oder dem EK II ausgezeichnet?

In der jüdischen Bevölkerung löste der sogenannte »Oktober-Erlass« lautstarke Proteste aus. Bei einer Debatte im Reichstag zitierte Ludwig Haas, der Sprecher der Fortschrittlichen Volkspartei, aus Briefen jüdischer Frontsoldaten, in denen darüber geklagt wurde, man würde durch diese Anordnung zu »Soldaten zweiter Klasse« degradiert. Allgemein wurde der Erlass als ein Bruch des vom Kaiser verkündeten »Burgfriedens« und als eklatanter Verstoß gegen den Geist der Augusttage 1914 angesehen.

Seitens der jüdischen Organisationen war man sich bewusst, dass den Vorwürfen des mangelnden Engagements im Krieg mit hieb- und stichfestem Zahlenmaterial entgegengetreten werden musste. Zu diesem Zweck trugen sie frühzeitig entsprechendes Material zusammen. Im Frühjahr 1915 wurde ein eigener »Ausschuss für Kriegsstatistik« geschaffen und dem »Bureau für Statistik der Juden« in Berlin angeschlossen.

Als empirische Grundlage dienten die nach dem Krieg zur Verfügung stehenden Daten, wozu insbesondere die vom »Reichsbund jüdischer Frontsoldaten« (RjF) veröffentlichten Namenslisten mit Geburts- und Todesdaten, Truppenteil und Dienstgrad der Gefallenen gehörten. Solcherart ausgerüstet, hoffte man, ließe sich ein positives Urteil über die Teilnahme der deutschen Juden am Ersten Weltkrieg ermitteln.

Schon ein kurzer Blick auf das Datenmaterial eröffnet Bemerkenswertes. Es zeigt etwa, dass bei einem Bevölkerungsanteil von 550.000 Juden rund 100.000 Mann in Heer, Marine und Schutztruppe gedient hatten. Von diesen sind rund 80.000 an der Front gewesen, davon sind mindestens 12.000 gefallen. Dekoriert wurden 35.000, befördert 23.000 jüdische Frontsoldaten, davon mehr als 2000 zu Offizieren und 1159 zu Sanitätsoffizieren und höheren Beamten.

abwehr Der statistische Abwehrkampf wurde nach Kriegsende noch 15 Jahre lang in Zeitungsartikeln, Broschüren und Büchern fortgeführt. Die vom »Centralverein«, dem RjF und anderen Organisationen nach Kriegsende 1918 veröffentlichten Abwehrschriften trugen Titel wie Die Juden im Heer (1919), Jüdische Flieger im Weltkrieg (1924), Unsere gefallenen Kameraden (1929) oder Die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen 1914–1918 (1933).

In diesen Kontext gehört auch der Band Gefallene deutsche Juden, der noch 1935 im Auftrag des RjF im von Hans-Joachim Schoeps geleiteten Vortrupp-Verlag erscheinen konnte. Diesem Band war als Frontispiz eine Zeichnung Max Liebermanns beigefügt, die eine Frau trauernd unter einer schlaff herunterhängenden Reichsflagge zeigt. Die Abbildung scheint nicht nur die Trauer um die jüdischen Gefallenen zu illustrieren, sondern unterschwellig noch eine andere Botschaft zu vermitteln. So drängt sich dem heutigen Betrachter der Eindruck auf, als ob sich in dem Motiv auch die Befindlichkeiten des deutschen Judentums am Vorabend der Katastrophe spiegeln. Man könnte nämlich aus der Abbildung auch ableiten, dass die trauernde Frau den sich anbahnenden Niedergang Deutschlands beweint, von dem sie ahnt, dass es im Begriff ist, seine jüdischen Bürger zu verstoßen.

Beeindrucken ließen sich die Antisemiten von dieser Form der Abwehr nicht. Die erwähnten Schriften wurden als »jüdische Rechtfertigungspublizistik« begriffen, und das Urteil in der Bevölkerung schien ebenfalls schon festzustehen. Juden seien, so meinte man, geborene Feiglinge und Drückeberger. »Nein, Lieber, ich denke nicht daran, eine Milderung dieses Hasses zu erwarten. Je mehr Juden in diesem Krieg fallen«, prophezeite Walther Rathenau bereits im August 1916 in einem Brief an den Publizisten Wilhelm Schwaner, »desto nachhaltiger werden ihre Gegner beweisen, dass alle hinter der Front gesessen haben, um Kriegswucher zu treiben. Der Hass wird sich verdoppeln und verdreifachen.«

zäsur Die »Judenzählung« stellt in der deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte eine Zäsur dar. Viele derjenigen, die 1914 mit Begeisterung ins Feld gezogen waren, fühlten sich durch die Anordnung zurückgestoßen. Selbst die Gutgläubigsten wurden nun von nagenden Selbstzweifeln beschlichen. Vielleicht, so begann sich so mancher zu fragen, war der von den Vätern und Vorvätern eingeschlagene Weg der Anpassung und Integration doch nicht der richtige?

Einer derjenigen, die Zweifel überkamen, war Arnold Zweig. Bei seiner Einberufung 1915 war er noch ein begeisterter Patriot. Die Kriegsgräuel, die antisemitischen Schikanen seiner Vorgesetzten und nicht zuletzt die »Judenzählung« führten bei Zweig zu einer Kehrtwende im Denken. Seine im Dezember 1916 erschienene Novelle Judenzählung vor Verdun war, wie er gegenüber Martin Buber in einem Brief später bekannte, ein Reflex »unerhörter Trauer über Deutschlands Schande und unsere Qual«.

Der in den letzten Kriegsjahren stark zunehmende Judenhass schlug sich zunächst in der Veröffentlichung von Schmähschriften wie den berüchtigten Protokollen der Weisen von Zion oder dem damals im Bürgertum viel gelesenen Roman von Artur Dinter Die Sünde wider das Blut nieder. Der abgedankte Monarch, ein begeisterter Leser solcher Schriften, schien geradezu besessen vom Hass auf die Juden, die er nicht nur als eine Gefahr für Deutschland, sondern für das »christliche Abendland« überhaupt ansah. Am 2. Dezember 1919 schrieb Wilhelm II. aus dem holländischen Exil an August von Mackensen, einen seiner einstigen Generalfeldmarschälle, dass einzig und allein die Juden für den verlorenen Krieg verantwortlich zu machen seien: »Kein Deutscher vergesse das je, und ruhe nicht, bis diese Schmarotzer vom Deutschen Boden vertilgt und ausgerottet sind! Dieser Giftpilz am Deutschen Eichenbaum!«

Das Bild vom »Giftpilz« wurde rasch populär. Nach 1933 fand dieses Motiv Eingang in die NS-Kinder- und Jugendpropaganda. So etwa in ein von Ernst Hiemer verfasstes Kinderbuch, das sogar den Titel Der Giftpilz trägt. Als das Buch 1938 in einer Auflage von 70.000 Exemplaren erschien, hieß es in der Werbung des Stürmer-Verlages, dass das Buch »in die Hand eines jeden deutschen Jungen und Mädels« gehöre.

Das Trauma der Niederlage und die zunehmenden antijüdischen Hassprojektionen potenzierten die völkischen Ressentiments. Die Alldeutschen, der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund sowie eine Reihe anderer antisemitisch-völkischer Organisationen, wie etwa die Münchener Thule-Gesellschaft, träumten von einem »völkischen Deutschland« als »Voraussetzung des Wiederaufstiegs der Nation«. Nationalismus und Rassenantisemitismus begannen zu einer Einheit zu verschmelzen.

kluft Zwischen Juden und Nichtjuden tat sich eine noch tiefere Kluft auf als zuvor, was in Teilen des deutschen Judentums, um eine Formulierung von Eva G. Reichmann zu gebrauchen, zu einem »inneren Bewusstseinswandel« führte, zu einem Prozess der Desillusionierung und Ernüchterung. »Uns (Juden)«, hieß es »Im deutschen Reich«, der Monatsschrift des Centralvereins, »steht ein Krieg nach dem Kriege bevor«.

Zu den Desillusionierten zählte der Schriftsteller Jakob Wassermann. In seiner 1921 erschienenen autobiografischen Schrift Mein Weg als Deutscher und Jude bekannte er sich zwar weiter zu seinem Deutschtum, gab aber gleichzeitig zu erkennen, dass diesem Bekenntnis Grenzen gesetzt sind: »Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage.«

Die von Martin Buber und anderen einst erhoffte kathartische Wirkung, die vom Kriegserlebnis ausgehen sollte, trat nicht ein. Das deutsche Judentum quälte sich nun mit der Suche nach Antworten auf die Identitätsfrage »Wer sind wir?«. Dieses Judentum bemühte sich schon während des Krieges und zunehmend nach Kriegsende um eine Neuorientierung. Der im Zuge der Zurückweisung eintretende Identitätsverlust und das Gefühl des Nichtdazugehörens hatten, so paradox das klingt, das Interesse am Judentum geweckt. Ein »neues« jüdisches Gemeinschaftsgefühl, für das Martin Buber den Begriff der »Jüdischen Renaissance« geprägt hatte, schien zu erwachen.

Es entwickelte sich in der Weimarer Republik so etwas wie eine spezifische deutsch-jüdische Kultur. Es sind Namen wie Georg Simmel, Siegfried Kracauer, Margarete Susmann, Ernst Bloch, Max Brod, Martin Buber, Alfred Kerr und Hermann Broch, die man mit dieser Kultur verbindet, aber auch Zeitschriften wie die »Kreatur«, »Daimon« und die »Neuen Blätter«.

Das Jahr 1933 markiert das endgültige Zerbrechen der »deutsch-jüdisch liberalen Weggemeinschaft« (Jacob Toury). Allerdings ist die Frage immer noch unzureichend beantwortet, ob der Anfang vom Ende dieser Weggemeinschaft nicht schon einige Jahre früher anzusetzen ist, nämlich in der Zeit des Ersten Weltkrieges.

Der Autor ist Historiker und Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums an der Universität Potsdam.

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