Architektur

Okzident trifft Orient

Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 leitete die Aufteilung des »Fruchtbaren Halbmonds« in imperiale Einflusssphären ein. Ein Jahr später, am 11. Dezember 1917, erreichte der britische General Edmund Allenby, Befehlshaber der Ägyptischen Expeditionsstreitkräfte, Jerusalem und durchschritt das Jaffa-Tor – zu Fuß, als Zeichen seiner Bescheidenheit.

Zwei Tage zuvor, am 9. Dezember, hatten die Osmanen Jerusalem nach 400-jähriger Herrschaft kampflos an die siegreichen Briten übergeben. Das Datum markiert die britische Herrschaft über Palästina, zunächst als Militärverwaltung, ab 1920 als Mandatsmacht, so beschlossen in Italien vom Obersten Rat der Alliierten Mächte während der San-Remo-Konferenz vom 19. bis 26. April 1920.

MASTERPLAN Die britische Mandatsmacht wählte Jerusalem als ihren Verwaltungssitz und entwickelte 1921 einen Masterplan für die Stadt. Um eine konstante Wasserversorgung Jerusalems zu gewährleisten, war 1920 eine der ersten Maßnahmen der Bau einer Wasserpumpstation am Salomon Pool bei Bethlehem. Noch im selben Jahr erfolgte der Bau des jüdischen Vororts Atarot nördlich der Jerusalemer Altstadt. Im Unabhängigkeitskrieg von 1948 verließen die Bewohner Atarot; sie kehrten nach dem israelischen Sieg im Sechstagekrieg zurück.

Ab 1920 entstanden in Jerusalem mehrere jüdische Vororte.

Zum Chefarchitekten der »Britischen Abteilung für Öffentliche Bauvorhaben« wurde Austen St. Barbe Harrison ernannt. Inspiriert durch nordafrikanische Architektur und islamische Gärten griffen Austen und sein Architektenkollege Albert Clifford Holliday eine oktogonale Form als Gebäudegrundriss für das Government House (hebräisch Armon HaNatziv) auf, heute Hauptsitz der UNTSO, der United Nations Truce Supervision Organization.

Weitere charakteristische Elemente des Architektenduos sind Außenkuppeln, innere Gewölbe und Bögen. Beeindruckend der vier Meter hohe offene Keramikkamin. Seine Kacheln stammen aus der Werkstatt des armenischen Künstlers David Ohanessian. Die Standortwahl der Briten fiel auf einen Hügelgipfel in Talpiot, strategisch gut gelegen. Ob auch religiöse Motive eine Rolle gespielt hatten, wird bis heute diskutiert, denn der ehemalige Sitz der britischen Hochkommissare wurde an dem Ort errichtet, an dem – nach christlicher Tradition – der Sanhedrin über Jesus urteilte und entschied, ihn an die Römer zu überstellen.

BAUBOOM Unter den Briten setzte ein Bauboom ein, Jerusalem expandierte nach Norden, Süden und Westen. 1924 entstanden im Westen die Stadtviertel Mekor Baruch, Mekor Chaim, Rehavia, Kiriat Moshe, Talbia und Geula, im Norden Neve Yakov. Die umfangreichen Baumaßnahmen waren ein willkommener Jobmotor für die arabische Bevölkerung wie für die jüdischen Immigranten. Noch im selben Jahr ernannten die Briten einen neuen Jerusalemer Stadtrat, bestehend aus sechs Arabern und sechs Juden. Zum Bürgermeister bestimmten sie einen Araber.

Jerusalem durchlief eine Transformation von einer provinziell anmutenden Stadt osmanischen Charakters zu einem modernen Verwaltungs- und kulturellen Zentrum.

Die Sandsteingebäude vereinen europäische und orientalische Elemente.

In Harrisons Entwürfen für weitere Gebäude finden sich die für Jerusalem typischen weißen Sandsteingebäude, in denen er architektonisch europäische und orientalische Elemente aufgriff und beide Stile ebenbürtig integrierte. Weitere Beispiele seines unverwechselbaren Architekturstils, des sogenannten Mandat-Stils, sind das imposante Gebäude der Hauptpost an der Jaffa-Straße, das Rockefeller-Museum, vormals das Palästinensische Archäologische Museum, von den Briten errichtet an der Stelle, wo am 10. Juli 1099 die Kreuzritter die massive Stadtmauer durchbrechen konnten und Jerusalem einnahmen.

RUNDBÖGEN Das Rockefeller-Museum, erbaut in den 30er-Jahren und heute Teil des Israel-Museums, ist eine wohltuende Oase der Ruhe. Markant der achteckige Turm. Den Innenhof schmückt ein Wasserbecken; ihn umsäumen Rundbögen, nachempfunden der maurischen Alhambra in Andalusien. Der Entwurf zum Wasserspeier stammt von dem britischen Bildhauer Eric Gill. Das Museum beherbergt bis heute archäologische Funde aus der britischen Mandatszeit, so ursprünglich auch die berühmten Qumran-Rollen. Später gingen die Schriftrollen vom Toten Meer in den eigens für sie entworfenen »Schrein des Buches« auf dem Gelände des Israel-Museums als festen Standort über.

Patrick Geddes, schottischer Stadtplaner und Architekt, nominierte den Skopus-Bergrücken als Standort der Hebräischen Universität (HUJ). Finanziert wurde das Bauvorhaben von jüdischen Zionisten. Ged-
des, nicht unumstritten, gilt als Pionier innovativen Denkens auf dem Gebiet städtischer Planung. Er prägte den Begriff »conurbation« (zu Deutsch: Großraum, Ballungsgebiet) und führte das Konzept der »region« (Bezirk, Fläche) in die Architektur ein. Mit seinem baulichen Städtekonzept für Tel Aviv hatte sich Geddes auch in der »Weißen Stadt« gegen seinen deutschen Architektenkollegen Richard Kaufmann erfolgreich durchsetzen können.

Das Einstein-Institut für Mathematik (1928), das Wolffsohn-Gebäude und das Einstein-Institut für Physik (1930) sowie das Rosenbloom-Institut für Jüdische Studien (1938) der HUJ tragen Geddes’ architektonische Handschrift beziehungsweise die seines Schwiegersohnes John Mears sowie des englischstämmigen Architekten Benjamin Chaikin, der die Bauarbeiten hoch oben auf dem Skopus-Berg beaufsichtigte.

EKLEKTIZISMUS Ein weiteres lebendiges Zeugnis britischer Mandatsarchitektur in Jerusalem ist das YMCA-Gebäude (Young Men’s Christian Association), entworfen vom britischen Architekten des Empire State Building in New York, Arthur Loomis Harmon, gebaut von 1924 bis 1933 während der arabischen Aufstände. Beide Gebäude waren zu ihrer Zeit das jeweils höchste in der Stadt. Die eklektische Architektur des YMCA, ein Mix aus byzantinisch, romanisch, gotisch und neomaurisch, spiegelt den Geist des Hauses wider, entsprechend Feldmarschall Lord Allenbys Aufruf zur friedlichen und gleichberechtigten Koexistenz der drei monotheistischen Religionen. Jedes Bauelement, jedes Detail ist von hoher Symbolik, wie etwa die 40 Säulen des Vorhof-Bogenganges. Sie verkörpern die 40-jährige Wüstenwanderung der Israeliten sowie die satanische Versuchung Jesu, als er sich 40 Tage lang in der Wüste aufhielt. Die zwölf Fenster im Auditorium stehen für die zwölf jüdischen Stämme, die zwölf Jünger Jesu sowie die zwölf Gefährten des Propheten Mohammed.

Lord Allenby legte auch den Grundstein der Andreaskirche.

Es war auch Lord Allenby, der den Grundstein der Schottisch-Protestantischen Andreaskirche legte, errichtet in den Jahren 1927 bis 1930, basierend auf dem Entwurf von Albert Clifford Holliday. Die Kirche gedenkt der schottischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg in Palästina gefallen sind. Holliday war auch 1930 am Masterplan zur Entwicklung der Jerusalemer Stadtmitte maßgeblich beteiligt. Zudem restaurierte er Teile der Jerusalemer Altstadtmauer.

BAHNSTATION Der architektonische Streifzug der britischen Mandatszeit endet im Stadtteil Baka’a an der alten Bahnstation, die von 1892 bis 1998 der erste und der letzte Halt entlang der Jerusalem-Jaffa-Linie war. Die Briten erweiterten das Gebäude, fügten hebräische Inschriften hinzu sowie Gebäudeflügel aus Kurkarblöcken, einem weichen Sandstein.

Am 14. Mai 1948 verließen die Briten Palästina. Ihre Fassadenverordnung von 1918 zur ausschließlichen Verwendung des Meleke, des »Jerusalem-Steins«, ein weißer Kalkstein mariner Herkunft, wie ihn schon König Herodes bevorzugt für seine Bauwerke verwendete, gilt bis heute.

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