Lesen!

»Oh, ihr Menschenbrüder«

In seiner kurzen Erzählung gelingt es Cohen, zwei historische Erfahrungen, die Juden im 20. Jahrhundert machen mussten, zu verknüpfen.

Lesen!

»Oh, ihr Menschenbrüder«

In seiner kurzen Erzählung verknüpft der französische Schriftsteller Albert Cohen die Dreyfus-Affäre mit der Schoa

von Ralf Balke  17.02.2025 18:10 Uhr

In Frankreich ist Albert Cohen ein bekannter Schriftsteller – vor allem aufgrund seines vierteiligen Romanzyklus rund um seinen Protagonisten Solal, der als sefardischer Jude eine bemerkenswerte Karriere in der französischen Politik einschlägt und am Ende aus Verzweiflung über die Schoa Suizid begeht. In Deutschland ist Cohen weitestgehend unbekannt. Sehr zu Unrecht, wie die jetzt fulminant ins Deutsche übersetzte Erzählung Oh, ihr Menschenbrüder beweist.

Darin verarbeitet der 76-Jährige, der 1895 auf der griechischen Insel Korfu zur Welt kam, eine zutiefst traumatisierende Konfrontation mit dem Antisemitismus aus seiner Kindheit in Marseille, wohin die Familie im Jahr 1900 ausgewandert war: »Du isst das Brot der Franzosen, oder? Meine Damen und Herren, ich stelle Ihnen einen Kollegen von Dreyfus vor, einen reinrassigen Judenbengel.«

Mit diesen Worten attackiert urplötzlich ein Straßenhändler vor einer größeren Menschenmenge den kleinen Albert, und das ausgerechnet an seinem zehnten Geburtstag. »Du kannst abhauen, wir haben genug von dir, du bist hier nicht zu Hause, das hier ist nicht dein Land.« Niemand steht dem Jungen in diesem Moment zur Seite – ganz im Gegenteil, es gibt nur hämisches Gelächter.

Für Cohen war der Justizskandal retrospektiv »die Ankündigung der Kammern des großen Schreckens, das Vorzeichen und der Anfang der Gaskammern«.

Was folgt, ist das ziellose Umherirren des Jungen durch die Stadt, das an einen Fiebertraum erinnert. Zum einen ist das kindliche Grundvertrauen in die Menschheit von einem Moment auf den anderen zerstört – und gleichzeitig seine Identifikation mit Frankreich schlagartig infrage gestellt. Dem von ihm geliebten Land hatte er in seinem Kinderzimmer sogar einen Altar mit Bildern von Napoleon, Molière, Victor Hugo und Louis Pasteur, Zinnsoldaten und kleinen Beuteln – gefüllt mit Erde aus französischen Kolonien –, gewidmet.

In seiner kurzen Erzählung gelingt es Cohen, zwei historische Erfahrungen, die Juden im 20. Jahrhundert machen mussten, zu verknüpfen und in einen Kontext zu setzen, und zwar die Affäre, die der Straßenhändler in seiner Hasstirade anführt, und die Schoa. Für ihn war der Justizskandal um den Offizier Alfred Dreyfus retrospektiv »die Ankündigung der Kammern des großen Schreckens, das Vorzeichen und der Anfang der Gaskammern«.

Cohen, der 1914 nach Genf zog und später die Schweizer Staatsbürgerschaft annahm, bringt in dieser sprachgewaltigen Erzählung ein weiteres jüdisches Motiv ins Spiel: den wandernden Juden. In seinem Fall ist es das durch Marseille getriebene, vor den Menschen und sich selbst flüchtende kindliche Ich des Autors. »Meine vererbte ewige Wanderung hat begonnen. Ich war ein Jude geworden, und ich lief, ein leichtes, etwas verängstigtes Lächeln auf den Lippen.«

Albert Cohen: »Oh, ihr Menschenbrüder«. Aus dem Französischen von Ahlrich Meyer, ça ira Freiburg/Wien 2024, 122 S., 19 €

Zahl der Woche

2 Jahre

Fun Facts und Wissenswertes

 03.12.2025

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  03.12.2025 Aktualisiert

Medien

»Antisemitische Narrative«: Vereine üben scharfe Kritik an Preis für Sophie von der Tann

Die Tel-Aviv-Korrespondentin der ARD soll mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis geehrt werden

 03.12.2025

Chemnitz

Sachsen feiert »Jahr der jüdischen Kultur«

Ein ganzes Jahr lang soll in Sachsen jüdische Geschichte und Kultur präsentiert werden. Eigens für die Eröffnung des Themenjahres wurde im Erzgebirge ein Chanukka-Leuchter gefertigt

 03.12.2025

TV-Tipp

»Fargo«: Spannend-komischer Thriller-Klassiker der Coen-Brüder

Joel und Ethan Coen erhielten 1997 den Oscar für das beste Originaldrehbuch

von Jan Lehr  03.12.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 4. Dezember bis zum 10. Dezember

 03.12.2025

TV-Kritik

Allzu glatt

»Denken ist gefährlich«, so heißt eine neue Doku über Hannah Arendt auf Deutsch. Aber Fernsehen, könnte man ergänzen, macht es bequem - zu bequem. Der Film erklärt mehr als dass er zu begeistern vermag

von Ulrich Kriest  02.12.2025

Streaming

Gepflegter Eskapismus

In der Serie »Call my Agent Berlin« nimmt sich die Filmbranche selbst auf die Schippe – mit prominenter Besetzung

von Katrin Richter  02.12.2025

Jean Radvanyi

»Anna Seghers war für mich ›Tschibi‹«

Ein Gespräch mit dem Historiker über die Liebesbriefe seiner Großeltern, Kosenamen und hochaktuelle Texte

von Katrin Richter  02.12.2025