Nachruf

Nichtarische Arien

Georg Kreisler (1922-2011) Foto: Mike Minehan

Seine Melodien klangen freundlich und heiter. Die Texte nicht: Das Mädchen mit den drei blauen Augen, Gehn ma Tauben vergiften im Park, Zyankali Rock’n Roll – die Lieder hielten, was die Titel versprachen.

wien Dabei war Georg Kreisler privat ein freundlicher Mensch. Seine boshaften Seiten agierte er in seinen Songs aus. Seit er in den 50er-Jahren aus dem amerikanischen Exil nach Österreich zurückgekehrt war, attackierte der Kabarettist, Komponist und Schriftsteller die heile Welt des Bürgertums. Staatsbeamte, Pantoffelhelden, Spießer aller Art nahm er ins Visier – vor allem aber seine Wiener. Wie schön wäre Wien ohne Wiener mit der unsterblichen Zeile »Statt des Antisemitismus gäb es nur ein Antiquariat«, Der Tod, das muss ein Wiener sein – Kreisler hasste die Bewohner seiner Geburtsstadt, wie es nur einer konnte, der als 16-Jähriger nach dem Anschluss 1938 erleben durfte, wie
zur allgemeinen Gaudi Juden unter Schlägen und Tritten gezwungen wurden, auf Knien mit Zahnbürsten die Wiener Trottoirs zu reinigen.

Die Kreislers hatten damals Glück: Ein Onkel in den USA besorgte ihnen Visa. Seinen amerikanischen Pass behielt Kreisler auch nach der Rückkehr nach Europa. Sicher ist sicher. Der Sohn einer assimilierten bürgerlichen Familie gehörte zu der Generation europäischer Juden, die durch die Nazis gezwungen waren, sich mit ihrer Herkunft näher zu beschäftigen.

»Das Judentum ist eine Behinderung, noch dazu eine, die sich offenbar vererbt«, hat der Satiriker einmal gesagt, um aber gleich ernsthafter fortzufahren: »Andererseits finde ich es eine Bereicherung: Man wird trotzig, was die Mitmenschen betrifft, und demütig in Bezug auf fast alles andere.«

skandal Vielleicht war es dieser Trotz, der Kreisler 1963 motivierte, als Erster in Deutschland nach der Schoa wieder witzige Lieder über Juden in sein Programm aufzunehmen. Die Nichtarischen Arien stießen erwartungsgemäß auf ein geteiltes Echo. »Darf man das jetzt wieder?«, fragte erstaunt-erschrocken ein Radioreporter des WDR. Die Jüdische Gemeinde Düsseldorf protestierte ebenso heftig wie erfolglos.

Dabei waren Lieder wie Onkel Joschi und Der General nett und harmlos, verglichen mit anderen Kreisler-Songs, die dem Autor
und Interpreten damals gelegentliche Funk- und Fernsehverbote eintrugen. Später hätten viele Sender gutes Geld für ein
Georg-Kreisler-Liveprogramm gezahlt. Doch der gab seit 2001 keine Konzerte mehr. Statt Songs schrieb Kreisler Romane und komponierte Bühnenwerke wie das tragikomische Musical Adam Schaf hat Angst, das 2006 im Hamburger Schmidt-Theater mit Tim Fischer in der Hauptrolle uraufgeführt wurde.

Seine Abschiedstournee gab der inzwischen 89-Jährige dieses Jahr. Weil er den eigenen, extrem hohen musikalischen Ansprüchen nicht mehr glaubte genügen zu können, rezitierte er dabei nur seine Texte ohne Gesang und Piano. Am Dienstag ist Georg Kreisler in Salzburg gestorben. Einen wie ihn wird es nie wieder geben.

Philipp Engel hat für die Jüdische Allgemeine im April dieses Jahres ein großes Interview mit Georg Kreisler geführt. Sie finden es unter prelive.juedische-allgemeine.de/article/view/id/10255

Georg Kreisler selbst kann man mit einer seiner schönsten »Nichtarischen Arien«, dem Lied vom »Onkel Joschi«, auf YouTube sehen und hören: www.youtube.com/watch?v=wol35PDN460&feature=related

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024