Kino

Mythen und Gerüchte

Ausschnit aus »Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen« Foto: Verleih

»Wie würden Sie rennen, wenn man Sie anzünden würde?«, will die junge Theaterregisseurin Mariana Marin von einem Komparsen wissen, während seine Frau ein weinendes, um Gnade flehendes Opfer mimen soll. Was im ersten Moment nach recht bizarren Regieanweisungen klingt, fügt sich in Radu Judes Geschichtsschreibungsfilm nach und nach zu einem hochdiskursiven, aus unzähligen Fragmenten bestehenden Historienbild.

Thema von Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen ist die oft relativierte, marginalisierte oder schlicht totgeschwiegene Beteiligung Rumäniens am Holocaust. Zwischen 1941 und 1944 deportierte und ermordete die rumänische Armee unter General Ion Antonescu über 300.000 Juden und Roma aus Rumänien und den besetzten Gebieten. Allein nach der Einnahme von Odessa im Oktober 1941 fielen in nur wenigen Tagen mehrere zehntausend Juden einem Massaker zum Opfer; ein Bombenattentat sowjetischer Partisanen lieferte dabei die willkommene Rechtfertigung.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

HISTORIKER Inzwischen sind die Verbrechen des Antonescu-Regimes zwar auch von rumänischen Historikern aufgearbeitet worden, doch in der breiten Öffentlichkeit ist davon bis heute wenig zu spüren. In einem schwer zu entwirrenden Knäuel aus nationalen Mythen und Gerüchten, selektiven und verzerrten Informationen konnte nach 1989 gar ein regelrechter Antonescu-Kult seine Blüten treiben.

Regisseurin Marin ist wissbegierig, furchtlos und hat eine Mission. Mit einer groß angelegten Volkstheater-Aufführung möchte sie das falsche Bild korrigieren und eine Debatte anstoßen. Reenactment ist dabei mehr als nur Geschichte »nachzuspielen«. Theater wie Film nähern sich dem vergangenen Geschehen mal auf situationskomische, mal auf debatten- oder rechercheorientierte Weise. In einer unaufhörlichen Bewegung werden Informationen, Literaturverweise, Fakten und Anekdoten aufgesammelt und eingebaut.

Mit einer groß angelegten Volkstheater-Aufführung möchte sie das falsche Bild korrigieren und eine Debatte anstoßen.

Das Theaterteam hat sein »Basislager« in einem Militärmuseum aufgeschlagen. Panzer, Uniformen und Schusswaffen, die wie Trophäen aufgereiht sind, bilden ein permanentes Hintergrundbild für Marins hitzige Diskussionen mit Mitarbeitern und Komparsen. Widerstand bekommt sie nicht nur von einigen Statisten, die ihr anti-rumänische Umtriebe vorwerfen, sie sexistisch beleidigen oder sich darüber beklagen, dass sie als Darsteller von Juden mit »Zigeunern« gemischt werden.

ZENSUR Ein Abgesandter der Stadtregierung droht, ihr Projekt zu kippen, sollte die Theatermacherin nicht auf die Darstellung des Massakers verzichten. Zwischen beiden entspinnt sich ein dynamisches Streitgespräch über Geschichtsschreibung, Aufarbeitung und Erinnerungskultur. Seinen Zensurversuch umgeht sie schließlich mit einem subversiven Manöver.

Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen (der Titel ist ein wörtliches Zitat aus Antonescus Ministerrat) berührt immer wieder auch Fragen nach dem Verhältnis von Politik und Ästhetik - und nach der Wirksamkeit politischer Kunst überhaupt. Marins Theaterkonzept trifft dabei auf Forderungen nach einem schlichten Wiedergaberealismus.

Radu Jude positioniert sich nicht zuletzt als Filmemacher, der Politik und Form untrennbar zusammendenkt. Der selbstgerechte Ton, der manch diskursiv angelegte Arbeit auszeichnet, fehlt ebenso wie jede empörungsrhetorische Didaktik. Dazu ist Judes Form viel zu verschlungen, das Material zu expansiv, der Humor zu trocken.

Was als politischer Wachrütttler gedacht war, gerät zum identitätsstiftenden Entertainment.

APPLAUS Anstatt sich in einer moralisch überlegenen Position einzurichten, lässt er Marins Experiment, das in einem absichtsvoll hässlichen Videolook gefilmt ist, auf unerwartete Weise aufs falsche Gleis geraten. Das Publikum begrüßt die Wehrmachttruppen und General Antonescu. Und bei der Szene, in der die Juden Odessas in ein Gebäude getrieben und verbrannt werden, gibt es Applaus.

Was als politischer Wachrütttler gedacht war, gerät zum identitätsstiftenden Entertainment. Der Kulturbeauftragte ist zufrieden – und empfiehlt Marin, im nächsten Jahr doch ein Stück über die Massaker an den Herero zu machen.

Ab 30. Mai im Kino.

Kulturkolumne

Was bleibt von uns?

Lernen von John Oglander

von Sophie Albers Ben Chamo  25.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  25.11.2025

Jüdische Kulturtage

Musikfestival folgt Spuren jüdischen Lebens

Nach dem Festival-Eröffnungskonzert »Stimmen aus Theresienstadt« am 14. Dezember im Seebad Heringsdorf folgen weitere Konzerte in Berlin, Essen und Chemnitz

 25.11.2025

Hollywood

Scarlett Johansson macht bei »Exorzist«-Verfilmung mit

Sie mimte die Marvel-Heldin »Black Widow« und nahm es in »Jurassic World: Die Wiedergeburt« mit Dinos auf. Nun lässt sich Scarlett Johansson auf den vielleicht düstersten Filmstoff ihrer Laufbahn ein

 25.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  24.11.2025

Nachruf

Das unvergessliche Gesicht des Udo Kier

Er ritt im Weltall auf einem T-Rex, spielte für Warhol Dracula und prägte mit einem einzigen Blick ganze Filme. Udo Kier, Meister der Nebenrolle und Arthouse-Legende, ist tot. In seinem letzten Film, dem Thriller »The Secret Agent«, verkörpert er einen deutschen Juden

von Christina Tscharnke, Lisa Forster  24.11.2025

TV-Kritik

Viel Krawall und wenig Erkenntnis: Jan Fleischhauer moderiert im ZDF den Kurzzeitknast der Meinungen

Mit »Keine Talkshow - Eingesperrt mit Jan Fleischhauer« setzt das ZDF auf Clash-TV: ein klaustrophobisches Studio, schnelle Schnitte, Big-Brother-Momente und kontroverse Gäste - viel Krawall, wenig Erkenntnis

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  24.11.2025

Nürnberg

»Tribunal 45«: Ein interaktives Spiel über die Nürnberger Prozesse

Darf man die Nürnberger Prozesse als Computerspiel aufarbeiten? Dieses Spiel lässt User in die Rolle der französischen Juristin Aline Chalufour schlüpfen und bietet eine neue Perspektive auf die Geschichte

von Steffen Grimberg  24.11.2025