Nachruf

Mit dem genauen Blick

Hans Mommsen (1930–2015) Foto: TdT/Damaros

Genau hat er hingeschaut, die schnelle, kaum angreifbare Antwort auf eine schwierige historische Fragestellung machte Hans Mommsen stutzig. Der Schwerpunkt seiner Forschung lag beim Nationalsozialismus, genauer: bei der Frage, wie es geschehen konnte, dass die liberale Weimarer Demokratie in die allerschlimmste Diktatur kippte.

»Kumulative Radikalisierung«, dieser etwas holprige Begriff gehört zu den Antworten, die Mommsen in seinem langen Forscherleben gefunden hat. Nicht einzig die Person Hitler war es, die Schoa und Weltkrieg geplant, befohlen und überwacht hat. Auch war die Ermordung der Juden Europas nicht von Beginn an im NS-Regime angelegt.

Vielmehr, so die materialreich belegte These Mommsens, sei der Nationalsozialismus – seine Partei, seine Bewegung, sein Staat, die ihn tragende Mehrheit der Deutschen – immer vielschichtig gewesen: Es habe Konkurrenzen gegeben, Antreiber, Bremser, es habe immer viel Freiraum gegeben, der von nicht wenigen zur Radikalisierung genutzt wurde. Die »Endlösung« sei während des Weltkriegs erst entwickelt worden.

Kollektivschuld Entsprechend weigerte sich Mommsen zwar, von einer deutschen Kollektivschuld zu sprechen, wollte sich aber historisch genau die Zahl der Täter nicht kleinrechnen lassen. Von etwa 200.000 an den Mordaktionen unmittelbar beteiligten Menschen schrieb er in seinem letzten Buch Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa und fügte hinzu, dass »die Zahl der am Genozid indirekt beteiligten deutschen Staatsbürger ein Vielfaches davon betrug«. Genau hingeschaut eben, was für einen Historiker wie ihn nie etwas mit Relativierung zu tun hatte.

Hans Mommsen entstammte einer Historikerfamilie. Sein Zwillingsbruder Wolfgang war ebenso Historiker wie sein älterer Bruder Karl. Vater Wilhelm hatte eine Professur in Marburg, die er wegen seiner NS-Verstrickung nach 1945 nicht mehr weiterführen durfte. Der berühmteste Mommsen war Urgroßvater Theodor, nach dem in Deutschland viele Straßen benannt sind und der 1902 als Historiker den Literaturnobelpreis erhalten hatte.

Hans Mommsen studierte in Tübingen bei Hans Rothfels, der vor den Nazis ins Exil geflohen war. Ab 1968 bis zu seiner Emeritierung 1996 war Mommsen Professor für Neuere Geschichte in Bochum.

Hans Mommsen ist am vergangenen Donnerstag im Alter von 85 Jahren in Tutzing gestorben.

Hollywood

Jesse Eisenberg will eine seiner Nieren spenden

Der Schauspieler hatte die Idee dazu bereits vor zehn Jahren

 03.11.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Herbstkaffee – und auf einmal ist alles so »ejn baʼaja«

von Nicole Dreyfus  02.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Zahl der Woche

8 jüdische Gemeinden

Fun Facts und Wissenswertes

 02.11.2025

Aufgegabelt

Wareniki mit Beeren

Rezepte und Leckeres

 02.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Bettina Piper, Imanuel Marcus  02.11.2025

Debüt

Katharsis und Triumph

Agnieszka Lessmann erzählt in ihrem Roman über transgenerationales Trauma und das Gefühl des Ausgegrenztseins, aber auch von einer jungen Frau, die sich selbst wiederfindet

von Sara Klatt  02.11.2025

Hören!

»Song of the Birds«

Der Mandolinist Avi Avital nimmt sein Publikum mit auf eine emotionale Klangreise entlang des Mittelmeers

von Nicole Dreyfus  02.11.2025

Künstliche Intelligenz

Wenn böse Roboter die Menschheit ausrotten

Die amerikanischen Forscher Eliezer Yudkowsky und Nate Soares entwerfen in ihrem neuen Bestseller ein Schreckensszenario. Ist KI tatsächlich so bedrohlich?

von Eva C. Schweitzer  02.11.2025