»Gipfeltreffen der Mathematik«

Mit allem rechnen

Es war ein langer Tag für Leonid Polterovich und Gil Kalai. Hinter den beiden israelischen Mathematikprofessoren liegt der erste von fünf Konferenztagen des 7. Europäischen Mathematiker-Kongresses samt feierlicher Eröffnung, ersten Vorträgen und Preisverleihungen an den Nachwuchs.

Der Kongress findet alle vier Jahre statt. Gastgeber 2016 ist die Technische Universität (TU) Berlin. Eine Woche lang versammelt dieses »Gipfeltreffen der Mathematik« unter der Schirmherrschaft der European Mathematical Society (EMS) mehr als 1000 Mathematiker aus Europa und der ganzen Welt – unter ihnen auch Leonid Polterovich von der Universität Tel Aviv und Gil Kalai von der Hebräischen Universität Jerusalem.

trophäen Polterovich und Kalai gönnen den jungen Wissenschaftlern die Preise von Herzen. Haben sie doch in ihrer langen Karriere längst einige der begehrtesten Trophäen erhalten – Kalai unter anderem für seine Varianten des Simplex-Algorithmus, Polterovich für die Lösung des Problems der »Lagrange-Knoten in 4-Mannigfaltigkeiten«.

Trotz des umfangreichen Konferenzprogramms entschließen sich die beiden Konferenzteilnehmer, den Abend für einen Rundgang im Jüdischen Museum zu nutzen. Dort wurde anlässlich der EMS-Konferenz die Wanderausstellung »Transcending Tradition: Jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur« eröffnet, die zuvor bereits in Israel, den USA, Australien und 15 deutschen Städten zu sehen war.

Die Schau zeigt, wie im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik jüdische Mathematiker in allen Bereichen der mathematischen Kultur zunehmend eine tragende Rolle spielten. Sie beleuchtet ihr Leben und Wirken an deutschsprachigen Universitäten seit 1780 und dokumentiert ihre Ausgrenzung, Emigration, Flucht und Ermordung nach 1933.

berührungspunkte Als Polterovich und Kalai am Museum eintreffen, werden sie von Ruti Ungar in Empfang genommen. Die Historikerin hat die Ausstellung zusammen mit dem Historiker Moritz Epple konzipiert und mitgestaltet. Die drei wechseln zur Begrüßung ein paar Worte auf Hebräisch.

Dabei stellen Ungar und Polterovich überrascht fest, dass sie einen gemeinsamen Bekannten haben: Ungars Vater Thomas war jahrelang Leiter des Computerlabors an der mathematischen Fakultät der Tel Aviver Universität – Polterovich kannte ihn gut. Es ist nur einer von vielen Berührungspunkten zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die die beiden Israelis an diesem Abend feststellen. Immer wieder nicken sie, fragen nach, kehren zu einem der Ausstellungskästen zurück, weil sie plötzlich einen Namen entdecken, der ihnen vertraut ist.

Da ist zum Beispiel Emmy Noether – schon zu Beginn des Rundgangs bemerkt Gil Kalai ein Zitat an der Wand. Es sei eine Schande, besagt der schlichte Schriftzug, dass »ausgerechnet einer brillanten Wissenschaftlerin wie ihr die Habilitation verwehrt« geblieben sei.

Die Kuratorin übersetzt den beiden Besuchern diesen Ausspruch des Mathematikers David Hilbert, der Noether seinerzeit an die Universität Göttingen holte – als einzige Frau in einem von Männern dominierten Beruf. 1933 wurde Noether die Lehrerlaubnis entzogen, daraufhin emigrierte sie in die USA, wo sie zwei Jahre später starb.

gedichte Ruti Ungar berichtet Kalai und Polterovich auch von Felix Hausdorff. Der Leipziger Kaufmannssohn gilt als Mitbegründer der allgemeinen Topologie. Er lieferte Beiträge zur Mengenlehre, zur Maßtheorie und zur Funktionalanalyse. Unter seinem Schriftsteller-Pseudonym Paul Mongré veröffentlichte er sogar Romane.

Leonid Polterovich wirkt erstaunt. Das sei nichts Ungewöhnliches, wirft Gil Kalai jedoch ein. Allein an seiner mathematischen Fakultät an der Hebräischen Universität Jerusalem gebe es drei Mathematiker, die selbst schreiben oder aus Schriftstellerfamilien kommen, erzählt er: Aner Shalev, der Bruder der Schriftstellerin Zeruya Shalev, Saharon Shelach, Sohn des israelischen Dichters Yonatan Ratosh, und Schmuel Agmon, Sohn des Romanciers Nathan Bistritzky.

Auch sein eigener Vater hat Gedichte geschrieben, verrät Kalai. Er hat sogar Rilke ins Hebräische übersetzt. Die Ausstellung zeigt aus seiner Sicht vor allem eines deutlich: wie stark jüdische Mathematiker die akademische Kultur in Deutschland geprägt haben.

schicksale So waren von den 94 ordentlichen Professuren der Mathematik, die es gegen Ende der Weimarer Republik gab, Anfang 1933 insgesamt 20 durch jüdische Mathematiker besetzt; zwischen 1914 und 1933 waren es sogar 28.

Hausdorffs Beispiel sei dafür exemplarisch, meint Ruti Ungar. 1910 wurde er an die Universität Bonn berufen, 1935 emeritiert, erzählt Ungar weiter. 1939 versuchte er mithilfe eines Forschungsstipendiums und seines Freundes Richard Courant in die USA zu emigrieren – erfolglos. Als die Deportation nach Theresienstadt bevorstand, nahm er sich das Leben, zusammen mit seiner Frau und seiner Schwägerin.

Es sind insbesondere Schicksale wie die von Noether und Hausdorff, sagt Ungar, denen die Ausstellung gewidmet ist – jenen Mathematikern also, die es während der Nazizeit nicht mehr schafften, das Land zu verlassen.

geometrie Viele der in der Schau Genannten und ihre Werke sind »alte Bekannte« für die beiden Israelis. So haben etwa Felix Hausdorffs Mengenlehre, Emmy Noethers Algebra, Max Dehns geometrische Topologie und Hermann Minkowskis Zahlentheorie bestimmte Teilbereiche der Mathematik seinerzeit von Grund auf verändert – und damit die Voraussetzungen für Forscher wie Gil Kalai und Leonid Polterovich geschaffen: Leonid Polterovich beschäftigt sich mit Geometrie und dynamischen Systemen. Sein Vortrag bei der EMS-Konferenz an der TU bezieht sich auf die Quantenmechanik. »Man muss bei manchen Problemen einen geometrischen Blickwinkel anwenden«, umreißt der 52-Jährige allgemein seine Forschungsarbeit.

Bei seinem Jerusalemer Kollegen Gil Kalai dreht sich alles im weitesten Sinne um Kombinatorik, Informatik und Geometrie. Es sei ein »eklektisches Gebiet«, bei dem manche Probleme aussehen »wie ein Puzzle«, meint der 61-Jährige.

Neben seiner Arbeit in Jerusalem ist er Herausgeber des Israel Journal of Mathematics und Gastprofessor in Yale. »Hermann Minkowski hat Grundlagen geschaffen, auf die ich mich bezogen habe, als ich beispielsweise ›konvexe Körper‹ untersucht habe«, sagt Kalai. Auch Max Dehn habe ihn geprägt. »Dehn war an vielem interessiert, auch an kombinatorischen Fragen und flexiblen Strukturen – darauf beziehe ich mich ebenfalls in meiner Arbeit.«

Quantenrauschen Auch mit Polterovichs Arbeit gibt es Überschneidungen. »Wir haben zahlreiche fruchtbare Diskussionen, etwa zum Quantenrauschen: Das Forschungsthema ist sowohl für mich von Interesse als auch für Gil«, sagt Polterovich.

In diesem Zusammenhang sei vor allem das Werk von Otto Toeplitz, dessen Geschichte die Ausstellung ebenfalls reflektiert, »von entscheidender Bedeutung für das aktuelle Verständnis der mathematischen Quantisierung, etwa durch den ›Toeplitz-Operator‹«.

Am Ende des Rundgangs bleiben Ungar, Kalai und Polterovich an einem langen Tisch stehen, auf dem unzählige Bücher mit blauem Einband aufgereiht liegen. Es sind »grundsätzliche Schriften«, betont Kuratorin Ungar. »Daran sieht man, wie aktiv Juden in allen Bereichen der Mathematik waren und welchen wegweisenden Beitrag sie geleistet haben – die meisten Mathematiker auf der Welt kennen diese Bücher.«

Formel Auf dem Weg ins Museum quer durch die Stadt haben sie – wie so oft – über die Arbeit gesprochen, berichten beide nach dem Rundgang. Dabei haben sie eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Bei aller Inspiration durch berühmte jüdische Mathematiker waren es vor allem ihre Väter, die ihre Freude an der Mathematik gefördert haben.

»Ich bin in Israel aufgewachsen, mein Vater war Schriftsteller, meine Mutter Künstlerin«, beschreibt Gil Kalai sein Elternhaus. Doch sein Vater war darüber hinaus auch ein Mathe-Ass. Von ihm hat er als Fünfjähriger seine erste binomische Grundformel gelernt: (a+b)² = a² + 2ab + b².

Er interessierte sich seit frühester Kindheit für Zahlen, aber diese spezielle Formel hat ihn damals ganz besonders beeindruckt, sagt Kalai nachdenklich. »Ich schätze, das hat etwas mit der Art und Weise zu tun, wie Väter Traditionen an ihre Kinder weitergeben – seien es nun Formeln oder Schachspielen.«

Leonid Polterovich lächelt. Es ist dieselbe Formel, die auch sein Vater ihm als Kind nahebrachte, gleichwohl Tausende Kilometer entfernt, in Moskau – wieder eine Gemeinsamkeit zwischen Kalai und Polterovich. Die Kollegen sind seit vielen Jahren Freunde und seit Kurzem sogar »fast verwandt«, erzählen sie lachend: Leonids Tochter heiratete einen von Kalais Studenten.

genie »Ich komme aus einer Mathematikerfamilie«, sagt Polterovich. »Mein Vater war Fachmann in mathematischer Volkswirtschaftslehre, meine Mutter Expertin im Automatischen Controlling. Da lag es wohl in der Natur der Dinge, dass auch mein Bruder und ich diese Richtung einschlugen.« Mit zehn Jahren schickten ihn die Eltern auf eine Mathe-Spezialschule – »ein Glücksfall«, sagt Polterovich rückblickend. Denn die Schule stellte sich nicht nur als Elfenbeinturm für Mathe-Genies heraus, sie war auch »eine Insel der Freiheit innerhalb eines totalitären Systems«, so der Mathematikprofessor. »Wir konnten dort viel offener reden, auch über Politik.«

Doch als Jude blieb ihm eine akademische Karriere lange Zeit verbaut: Das Studium an der Lomonossow-Universität beendete er 1984 – nicht etwa mit einem Diplom in Mathematik, sondern in Mechanik. Danach arbeitete er als Ingenieur am staatlichen Energieforschungsinstitut »Krzhizhanovsky«. Erst mit seiner Alija nach Israel 1989 konnte Polterovich auch als Mathematiker durchstarten: Er promovierte 1990 an der Universität Tel Aviv bei Jakow Sinai und Vitali Milman.

»Es gab in der Sowjetunion nicht nur einen internen Numerus clausus für Juden, sondern euch eine Art ›Spezialeinheit‹, die Juden in der Uni aufspürte – egal, ob Vater oder Mutter jüdisch waren. Diese Studenten mussten dann gesonderte Prüfungen ablegen, durch die man sie hat durchfallen lassen.« Daher berührt ihn die Ausstellung im Jüdischen Museum ganz besonders, sagt er. Er könne »viele Parallelen« entdecken: von Ausgrenzung bis Ausschluss.

dringlichkeit Gil Kalai hört seinem Freund aufmerksam zu. Er kennt dessen Geschichte. Dennoch, die Mathematiker-Ausstellung rückt für ihn vieles noch einmal in einen größeren historischen Zusammenhang, sagt er. Sie sei auch insofern interessant, da sie Mathematik als »Teil der Kultur« zeige. »Man kann die Wirklichkeit nur in ihrer Vielfalt verstehen. Naturwissenschaft ist eine Säule dieser Vielfalt – diese Säule ist Teil unserer Kultur, unserer Geschichte, ebenso wie Religion, Geisteswissenschaften, Philosophie und Literatur«, meint der Forscher.

Er selbst habe Antisemitismus nie erlebt. Dennoch habe »die Schoa das Leben in Israel immer überschattet«. Als er vor Jahren das erste Mal nach Deutschland flog, ebenfalls zu einem Mathematiker-Kongress, begleitete er seinen Doktorvater, »einen alten Jecke«. »Damals kam es mir noch seltsam vor, in Deutschland zu sein«, heute sei es »ganz normal«.

Auch sein Freund Leonid Polterovich war unzählige Male in Deutschland. Er fühlt sich hier wohl – auch, weil Staat und Gesellschaft offen über Antisemitismus diskutieren. Er wünsche sich, dass sich die russische Akademikerwelt eines Tages bei all den jüdischen Wissenschaftlern entschuldigen möge, die zu Sowjetzeiten ausgegrenzt wurden. Darauf wartet er noch immer.

Gil Kalai klopft seinem Freund auf die Schulter. Im Gegensatz zur Mathematik, bei der das »Dringlichkeitsprinzip« nicht gelte (so präsentierte Edmund Landau im Jahr 1925 in Jerusalem 23 Probleme in der Zahlentheorie; die meisten von ihnen, die damals ungelöst waren, sind es immer noch), sei es jetzt an der Zeit, Antisemitismus in der Wissenschaft auch in anderen Ländern aufzuarbeiten. Vielleicht werde man diesbezüglich beim nächsten Mathematiker-Kongress ja schon einen Schritt weiter sein.

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