Frau Adler, Ihr neues Buch heißt »Genial ernährt«, aber Sie plädieren nicht für Askese und Verzicht auf Genuss. Sind Chips, Salami und Bier also weiterhin erlaubt?
Ja, denn alles, was verboten ist, wird ja besonders interessant. Mir geht es nicht um Perfektion, sondern um Balance. Wenn man sich prinzipiell gut ernährt, sodass der Körper stark und kräftig ist, dann kann er auch so etwas »Schreckliches« aushalten wie eine Grillwurst oder mal ein Glas Alkohol.
Sie predigen keine neue Diätform oder irgendeine Zauberformel, sondern setzen sich mit allen möglichen Ansätzen auseinander, mit vegetarischer Ernährung, basischer Ernährung, Low Carb. Ihr persönlicher Favorit ist die darmfreundliche Ernährung. Warum?
Es gibt Studien wie die des American Gut Project mit 15.000 Mikrobiom-Proben …
… Mikrobiom bedeutet Darmflora …
… ja, und dabei wurden zwischen 2012 und 2019 Proben von 11.000 Studienteilnehmern aus 42 Ländern untersucht. Das Ergebnis: Wenn man pro Woche 30 pflanzliche Lebensmittel isst – also Gemüse, Obst, Kräuter, Gewürze, Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte, Nüsse, Samen, Gewürze darf man auch dazuzählen, sogar auch Kaffee und Olivenöl –, dann hat man eine sehr gute Darmflora. Das schützt den Körper vor Zivilisationskrankheiten und stärkt das Immunsystem. Eine weitere offizielle Empfehlung ist, 30 Gramm Ballaststoffe am Tag zu sich zu nehmen.
30 verschiedene pflanzliche Lebensmittel – gibt es da eine Top-Ten-Liste?
Sie sollen einfach unterschiedlich sein. Also wenn Sie morgens zum Beispiel Magerquark mit Hirse essen, dann zählen die Himbeeren und Blaubeeren mit, die Sie dazu geben. Dann zum Beispiel Apfelstücke. Dann streuen sie da vielleicht noch Chiasamen, Hanfsamen und Leinsamen darauf und ein paar Walnüsse oder Mandeln. Und dann können Sie noch einen Kaffee dazu trinken mit einem Schuss Soja-Drink. Da hat man schon zehn bis elf Pflanzenpunkte gesammelt.
Kaffee zählt also auch als Ballaststoff?
Ja, zwei Tassen liefern so viele Ballaststoffe wie eine Banane. Kaffee ist total gesundheitsförderlich, er beugt Krebs und Demenz vor und schützt das Herz-Kreislauf-System.
Ich trinke pro Tag vier bis fünf Tassen Kaffee. Das ist nicht zu viel?
Drei bis fünf Tassen sind super. 400 Milligramm Koffein am Tag tragen zu einer geringen Gesamtsterblichkeit bei.
Was bedeutet eigentlich »Ballaststoff«, welche Sorten gibt es?
Faserige Ballaststoffe geben dem Stuhl Struktur, sodass man gut auf die Toilette gehen kann. Die Wurst ist dann eine »Dampframme«, kann den Schließmuskelmechanismus besser öffnen und auch eine vollständige Entleerung bewirken, was für ein gutes Körpergefühl sorgt. Die löslichen Ballaststoffe sind Düngemittel für die Darmbakterien, sie quellen ein bisschen im Magen, wie etwa Akazienfasern. Wenn wir Pflanzenkost essen, nehmen wir automatisch eine Mischung von löslichen und faserigen Ballaststoffen zu uns. Weißbrot hat ganz wenig Ballaststoffe, weil ja die Vollkornhülle und der Weizenkeim entfernt sind. Während, wenn man das volle Korn nimmt, ist genau das alles noch dabei. Es gibt ganz viele Lebensmittel, die verschiedene Ballaststoffe liefern. Hülsenfrüchte, Flohsamenschalen, bittere Salate, Wurzelgemüse, Apfelschalen, erkaltete Kartoffeln oder Haferflocken und Pilze. So schafft man es, eine ganz vielfältige Bakterienvielfalt zu erzeugen. Und das ist genau das, was uns gesund hält.
Sie betonen, Menschen seien »glücklich und ausgeglichener«, wenn es mit dem Stuhlgang gut läuft. Ist das den Leuten wirklich so wichtig? Warum essen viele trotzdem lieber Pizza, Pommes und Weißbrot? Oder kennen die Leute den Zusammenhang nicht?
Sie wissen es nicht, und manche sagen auch, ich vertrage gar keine Ballaststoffe. Diese Menschen haben ihre Bakterienflora schon geschädigt. Die muss man dann wieder langsam und in kleinen Schritten aufbauen. Aber das kann man ja tun. Und nach einer Weile der Gewöhnung verträgt man dann plötzlich auch immer mehr Pflanzenkost und hat immer weniger Blähungen. Und es ist natürlich so, dass unsere Lebensmittelindustrie leider unser Appetitempfinden ziemlich versaut hat, indem sie Lebensmittel komplett formverändert. Also eine ganz andere Textur geschaffen hat. Wir haben vergessen, wie echtes Essen schmeckt. Wenn man hoch verarbeitete Lebensmittel zu sich nimmt, die den Appetit anregen, nimmt man etwa 500 Kalorien pro Tag mehr zu sich als sonst. Da ist viel Salz, Zucker und Geschmacksverstärker drin. Man kann aber seine Geschmacksknospen wieder herunterfahren, damit sie mit ganz feinen Geschmäckern aus Gewürzen und Kräutern wieder glücklich sind und zum Beispiel die Süße der Karotte genießen können.
Wie ist Ihre Meinung zu Diät-Cola?
Ich würde es nicht generell verbieten, aber das ist nichts, was man regelmäßig trinken sollte. Die Leute denken teilweise auch, dass sie sich dann, weil sie Kalorien »gespart« haben, woanders mehr gönnen können: einen Burger mit Pommes. Künstliche Süßstoffe können außerdem die Darmflora negativ verändern und vermutlich das Diabetes-Risiko steigern. Gesunde natürliche Süße hingegen findet man in der Aminosäure Glycin, den »intelligenten Zuckern« Tagatose und Galactose (gut unter anderem für die Darmflora und das Gehirn). Sie kann man über seinen Joghurt streuen oder für Desserts nutzen, außerdem Yacon-Wurzel-Pulver, Zimt, Kakao, Vanille, Tonkabohnen oder Dattelstückchen.
Es heißt, dass nützliche Bakterien im Darm Entzündungen reduzieren. Manche Ärzte bringen Entzündungen mit Depressionen in Zusammenhang. Kann man so weit gehen zu sagen, dass darmfreundliche Ernährung glücklich macht – oder wäre das zu eindimensional?
Doch, das stimmt. Die Darm-Hirn-Achse wird jetzt sehr gut erforscht. Man weiß, dass Depressionen, aber auch Demenzformen und wahrscheinlich auch Parkinson mit der Darmflora in Verbindung stehen. Es gibt diese Aminosäure, Tryptophan, aus der wird im Darm und im Gehirn Serotonin – das Glückshormon. Hier gibt es also eine Verbindung zwischen der Darmflora und dem Gehirn. Das hat etwas mit Tryptophan und dem Serotoninstoffwechsel zu tun, aber auch mit anderen Botenstoffen und Entzündungsstoffen aus dem Darm, die das Gehirn über die Blutbahn erreichen.
Tryptophan gibt es in umgewandelter Form auch als Nahrungsergänzungsmittel: 5-Hydroxytryptophan oder kurz 5-HTP. Gibt es Studien, die eine Wirksamkeit nachweisen?
Das kommt auf die Ursache der Depression, der Angststörung oder Schlafstörung an. Wenn das mit dem Serotoninmangel im Gehirn zusammenhängt, ist es auf jeden Fall eine Möglichkeit. 5-HTP kann den Serotoninspiegel im Gehirn erhöhen. So ähnlich, wie wenn Sie einen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, ein sogenanntes SSRI, als Antidepressivum einnehmen. Aber Serotoninmangel ist nicht immer die einzige Ursache für Depressionen, Ängste, Schlafstörungen oder Melancholie. Da gibt es weitere Faktoren, auch frühkindliche Erlebnisse, (vererbte) Traumata, eine Schilddrüsenfunktionsstörung. Auch ein Mangel an Omega-3-Fettsäuren, Vitamin D oder B-Vitaminen kann eine Rolle spielen. 5-HTP ist als Nahrungsergänzungsmittel in Deutschland nicht mehr in isolierter Reinform zugelassen, sondern nur noch als pflanzliches Extrakt aus der Griffonia simplicifolia erhältlich, vielleicht auch, weil die Pharmaindustrie kein Interesse an einer Konkurrenz hat. Ich habe allerdings viele Patienten, die in Absprache mit ihrem Psychiater ihre medikamentöse Therapie umgestellt haben und nun 5-HTP und Tryptophan einnehmen. Das sollte aber immer ärztlich begleitet erfolgen, insbesondere wenn zuvor Antidepressiva wie SSRI eingenommen wurden. Ich habe allerdings viele Patienten, die sind von ihrem Serotonin-Wiederaufnahmehemmer weggekommen und nehmen jetzt 5-HTP und Tryptophan. Es braucht aber zudem auch Sport, Schlaf, Tageslicht, einen Tag-Nacht-Rhythmus, eine Psychotherapie, um gegen eine Depression anzugehen. Ein einziges Medikament ist kein Allheilmittel.
Meine Hausärztin sagt: Wer sich gesund ernährt, braucht keine Vitaminpräparate. Daran verdienen nur die Firmen, die sie herstellen. Viele Menschen nehmen heute Vitamin B12, Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren, ohne vorher ein Blutbild machen zu lassen. Ist das sinnvoll?
Ich bin Ernährungsmedizinerin, und ich messe den Blutspiegel. Und ich sehe, dass man trotz gesunder Ernährung nicht immer auf das kommt, was man braucht. Zum einen sind unsere Lebensmittel oft nicht mehr so reich an Mikronährstoffen, wie sie das früher waren, weil sie weit gereist, schnell hochgezüchtet, im Gewächshaus gewachsen und/oder stark verarbeitet sind. Man hat ihnen die Ballaststoffe und Bitterstoffe entzogen. Ich arbeite auch in der Schweiz und vergleiche die Darmflora der Berliner und der Züricher Patienten. Das ist ein oft sehr großer Unterschied. In Zürich isst man mehr regional und saisonal, vom Bauern, reifer, weniger verarbeitet. Man hat besseres Wasser, man bewegt sich auch mehr. Und: Heutige Lebensmittel enthalten Pestizide, Glyphosat, Mikroplastik, Nanoplastik, Zucker, Salz und Konservierungsmittel. All das und Medikamente verändern und schädigen die Darmflora. Auch wenn man nicht gut schläft und nicht genügend Ballaststoffe zu sich nimmt. Und das sind Gründe, warum Menschen messbar reduzierte Spiegel von Vitaminen, Spurenelementen, Mineralien, Omega-Fettsäuren, Aminosäuren und Pflanzenstoffen in ihrem Blut haben. Trotz gesunder Ernährung kann man Mängel haben. Viele profitieren von Zink und Magnesium, auch wenn sie davon vielleicht nur niedriger, aber noch normale Spiegel haben. Viele Frauen brauchen Eisen, weil sie bluten. Jod brauchen wir alle, weil wir in einem Jodmangelgebiet leben. Und deswegen ist ja das Volkssupplement jodiertes Speisesalz so wichtig, damit wir kein Struma bekommen, keine Zysten, keine Knoten, womöglich auch seltener Hashimoto oder Schilddrüsenkrebs. Omega-3-Fettsäuren, Vitamin D3 mit K2 und Selen fehlen den meisten – und sie profitieren von einer Supplementierung.
Lebt man tatsächlich länger, wenn man sich gesund ernährt?
Langlebigkeit und Gesundheit sind zu zehn bis 30 Prozent genetisch vorbestimmt, 70 Prozent sind durch Lebensstilmaßnahmen erreichbar (auch Umweltfaktoren spielen zudem eine Rolle). Und Lebensstil ist natürlich in erster Linie Ernährung, aber natürlich auch Schlaf, Sport und gesunde menschliche Beziehungen. Schon mit fünf Gramm Ballaststoffen mehr am Tag (circa drei bis vier Esslöffel Haferkleie oder gekochte Linsen) können wir unser Krankheits- und Sterberisiko reduzieren.
Mit der Dermatologin und Ärztin für Ernährungsmedizin sprach Ayala Goldmann.
Yael Adler: »Genial ernährt! Klüger essen, entspannter genießen, besser leben«. Droemer Knaur, München 2025, 416 S., 22 €