Doku

»MeToo hat ein Bewusstsein geschaffen«

Frau Moshman, Sie werden in Ihrem Dokumentarfilm »Nevertheless« der Frage nachgehen, wie Frauen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ausgesetzt sind. Wie ist denn die Situation Ihrer Meinung nach zurzeit?
Seitdem Frauen in die Arbeitswelt eingetreten sind, gibt es sexuelle Belästigung. Viele von uns haben damit ihre Erfahrungen gemacht, trauen sich aber nicht, darüber zu sprechen. Es war bis zum Hashtag MeToo keine Sache, die großartig in den Schlagzeilen war. Das änderte sich – zumindest hier in den USA – im Zuge der Affäre um den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein. Viele Frauen und Männer begannen, sich zu öffnen und von ihren schrecklichen Erlebnissen zu erzählen. Dieses Thema ist mittlerweile allgegenwärtig an Arbeitsplätzen in den USA. Ich werde mich in meinem Film fragen, wie wir so weit kommen konnten und wie es weitergehen wird. Aber es ist nicht nur ein Film über die USA – bei diesem Thema nicht global zu denken, wäre naiv.

Sie haben den Hashtag MeToo angesprochen, der zwar durch die Schauspielerin Alyssa Milano bekannt gemacht wurde, den es aber schon seit mehr als zehn Jahren gibt und der von der Bürgerrechtlerin Tarana Burke eingeführt wurde. Wie hat dieser Hashtag geholfen?
Nun, zunächst einmal ermöglichte er vielen Menschen, das, was ihnen zugestoßen war, mit anderen zu teilen. In solchen Momenten sind soziale Medien einfach unglaublich – so viele Frauen und Männer haben gesehen, dass sie nicht allein sind. Auf der anderen Seite gab es etliche Männer, die sagten: Das war mir bislang nicht aufgefallen. Angeregt durch die MeToo-Debatte haben sie sich gefragt: Wie habe ich mich bislang verhalten? Dass Männer ihre eigenen Privilegien hinterfragen, ist ein wichtiger Bestandteil des Ganzen. Denn ansonsten ändert sich nichts.

Männer fragen sich vielleicht: Was ist überhaupt noch gestattet? Wie weit ist zu weit?
Nichts ist schwarz und weiß. An jedem Arbeitsplatz sollte klar sein, was erlaubt und was nicht erlaubt ist, und wo die Grenze zu sexueller Belästigung liegt. Wenn beispielsweise eine Fernsehsendung zum Thema »Sex« gedreht wird, sind die Gespräche im Büro der TV-Redaktion anders als die in einer Anwaltskanzlei: Jedes Unternehmen muss also für sich herausfinden, was tolerierbar ist und was nicht, und welche Konsequenzen Menschen, die diese Grenze übertreten, zu tragen haben. Frauen müssen auch am Arbeitsplatz einen »safe space«, einen geschützten Raum, haben, um eventuelle Vorfälle zu schildern. Die Diskussionen, die nach MeToo entstanden sind, gab es vorher nicht. Dass dies nun zur Sprache kommt, ist wichtig.

Wie kann Ihr Film dazu beitragen, sogenannte safe spaces zu schaffen?
Als ich beim Fernsehen gearbeitet habe und sexuell belästigt wurde, habe ich mich nicht getraut, darüber zu sprechen. Das ist eine sehr individuelle und persönliche Entscheidung. Es kann die eigene wirtschaftliche Unabhängigkeit bedrohen, denn man kann seinen Job aufs Spiel setzen, wenn man darüber spricht. Meine Hoffnung ist, dass wir das System ein wenig ändern können. Damit meine ich, dass wir die Kommunikation mit Arbeitgebern und Männern, die nun einmal sehr oft die Täter sind, ins Rollen bringen und ihnen vermitteln können, wie wichtig es für Frauen im Falle eines Falles ist, einen safe space zu haben, in dem sie frei und unbedenklich sprechen können.

Das Thema sexuelle Belästigung ist nicht neu. In den 20er-Jahren wurde Frauen empfohlen, ihren Job zu kündigen, wenn sie damit nicht umgehen konnten. Und der englische Ausdruck »Sexual harassment« kam Mitte der 70er-Jahre in den USA auf, als eine Gruppe von Frauen angab, sexuell belästigt worden zu sein. Warum führen wir diese Diskussion immer noch?
Es wird irgendwie nicht besser. Wir sind – nicht zuletzt auch durch die technischen Entwicklungen – immer länger und umfangreicher für unsere Arbeitgeber verfügbar. Es sind auch diese After-Work-Situationen, in denen man zwar nicht mehr am Arbeitsplatz ist, aber dennoch mit seinem Vorgesetzten oder einem Mitarbeiter zu tun hat. Auch das werde ich in meinem Film eingehender untersuchen. Ich habe die geringe Hoffnung, dass durch das Internet die Aufmerksamkeit wächst: MeToo hat ein Bewusstsein geschaffen. Millionen Frauen und Männer haben erkannt: Da passiert etwas. Wie machen wir nun weiter? Ein Teil davon ist, dass wir mehr Frauen in Führungspositionen brauchen. Ich möchte damit nicht sagen, dass es nicht auch Frauen gibt, die selbst belästigen, aber zu 98 Prozent sind es doch Männer. Was die Führungspositionen angeht, ist es nicht allein in den USA so.

In der vergangenen Woche sorgte ein Foto auf der Website des deutschen Bundesministeriums des Innern für Aufsehen, das die komplett männliche Führungsebene zeigte.
Es ist unglaublich! Auch bei Diskussionen in den USA über Frauenrechte oder über Fragen der Reproduktion, sprechen nur Männer. Wie kann man von ihnen Einfühlungsvermögen erwarten? Sie sind nie schwanger, sie fühlen nicht wie eine Mutter. Und genau darum – um Empathie – geht es. Versetze dich in die Lage des anderen. Ich denke auch, dass so etwas Jungen von klein auf nicht beigebracht wird. Eine Frage, mit der ich mich in Nevertheless ebenfalls befassen werde: Wie erziehen wir unsere Jungen, die dann später Männer werden und in die Arbeitswelt eintreten?

Welche Erfahrung haben Sie im Gespräch mit Frauen gemacht, die sexuell belästigt wurden?
Es ist traumatisch für sie, beeinträchtigt sie in ihrem Leben und auch in ihrer Arbeitskraft. Ich habe versucht, mein persönliches Erlebnis mental in eine Box zu packen, aber die MeToo-Debatte und auch die Tatsache, dass ich Mutter einer Tochter bin, hat das alles wieder hochgebracht.

Haben Sie denn jemals darüber gesprochen?

Nicht wirklich öffentlich. Mein Mann weiß es, enge Freunde. Ich wollte es nie zu meiner Geschichte machen. Ich wollte nicht, dass ich die bin, der dies zugestoßen ist. Sobald man etwas erzählt, steht der Täter im Mittelpunkt. Nicht die Frau, der dies widerfahren ist. Und ich wollte nicht als die in Erinnerung bleiben, die sexuell belästigt wurde. Ich möchte etwas verändern. Das mag vielleicht etwas scheinheilig klingen, aber so gehe ich damit um.

Auf der Kickstarter-Seite, auf der Sie Ihr Filmprojekt »Nevertheless« vorgestellt haben, sind Sie hochschwanger zu sehen. Sie tragen ein T-Shirt, auf dem steht »MeToo but please not her«. Wird Ihre Tochter immer noch gegen sexuelle Belästigung ankämpfen müssen?
Ich hoffe nicht. In 20 Jahren, wenn sie einmal berufstätig sein wird, hoffe ich, dass es mehr Frauen in Führungspositionen geben wird. Und dass sexuelle Belästigung einfach nicht mehr toleriert werden wird – so wie es heute der Fall ist. Ich wünsche mir, dass meine Tochter für sich und andere die Stimme erheben wird, dass sie sich durchsetzen kann.

Mit der Regisseurin sprach Katrin Richter.

Weitere Informationen zum Film:
www.kickstarter.com/projects/1107652396/nevertheless-documentary-aims-to-end-sexual-harass?lang=de

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