Tel Aviv

Meschugge im Mersand

Jeckisches Stammcafé: das Mersand Foto: dpa

Tel Aviv

Meschugge im Mersand

Michael Guggenheimer setzt der Stadt seiner Kindheit ein literarisches Porträt

von Ludger Heid  26.08.2013 18:44 Uhr

Im Ranking der weltweit beliebtesten Städte liegt Tel Aviv ganz vorne. Warum Israels Metropole so populär ist, kann man bei Michael Guggenheimer nachlesen. Wenn der in Zürich lebende, in Tel Aviv geborene und aufgewachsene Schriftsteller, Journalist und Fotograf im Café Mersand in der Ben-Yehuda-/Ecke Frishman-Straße seinen Hafuch Gadol trinkt, ist er glücklich, denn er sitzt in einem der letzten Jeckes-Cafés der Weißen Stadt, in die er immer noch ganz vernarrt ist.

Im Mersand schreibt er (wenn er nicht gerade Haaretz liest) auch seine skurrilen Geschichten. In seiner Titelstory erweist sich Guggenheimer als genauer Beobachter der Mersand-Gäste mit all ihren schrulligen Allüren, die zumeist, wie er selbst, den israelischen Milchkaffee trinken.

Das Mersand ist der Treffpunkt vieler Tel Aviver quer durch alle Schichten und Generationen. Ein Tisch ist stets reserviert. Seit 25 Jahren, immer vormittags – denn zwischen 14 und 16 Uhr ist »Schlafstunde« –, außer am Schabbat, trifft sich im Mersand ein Kreis älterer Damen, die es inzwischen zu einer gewissen Berühmtheit gebracht haben, nachdem Günther Jauch mit ihnen zusammengetroffen ist.

Der TV-Moderator war bei seinem Israelbesuch berührt von den alten Damen, die ein Stück europäischer Kaffeehauskultur in Israel pflegen. Seinen Besuch kommentierte Jauch etwas naiv mit den Worten: »Das ist ein wenig traurig, denn diese Damen hätten ihren Platz hier in Deutschland finden können.«

kaffekränzchen Guggenheimer erzählt die Geschichte so weiter: Inzwischen heißen die Frauen »Hagwaroth migermania b’gil hazahav«, was sich mit »die Damen aus Deutschland im goldenen Alter« übersetzen lässt. Etwa zehn Seniorinnen umfasst das Kränzchen, alle über 85, alle auffallend gepflegt – Make-up, Lippenstift, onduliertes Haar, Perlenohrringe. Eigentlich müssten sie des Lebens müde sein, denn das Schicksal hat sie hart geprüft. Sie stammen aus Berlin, Leipzig, Essen, Wien und anderen Städten Deutschlands und Österreichs.

Elsa Jonas etwa kommt aus Wien, lebt seit über 70 Jahren im Land und spricht allenfalls ein holpriges Hebräisch. Als sie einmal angesprochen wurde, ob sie sich nicht schäme, nach sieben Jahrzehnten immer noch kein Iwrit zu können, antwortete sie kleinlaut: »Ja, ich schäme mich. Aber es ist leichter, sich zu schämen, als Hebräisch zu lernen.« Ihretwegen wird am Kaffeetisch »gezwungenermaßen« Deutsch gesprochen.

gay-parade 70 weitere Geschichten über Menschen, Situationen und Institutionen präsentiert Guggenheimer in seinem Buch: Geschichten zum Schmunzeln, allesamt mit hohem Wiedererkennungswert für jene, die Tel Aviv, dieses Kronjuwel der architektonischen Moderne mit seinen vielen Häusern im Bauhaus-Stil, einmal besucht haben. Er beschreibt in seinen Erzählungen die seltsamen Aspekte des Alltagslebens in der Stadt der vielen Sprachen, was allein oft schon Grund genug ist für vielerlei Missverständnisse.

Eine Stadt, in der die einzige Gay-Parade des gesamten Nahen Ostens stattfindet, gegen die selbst die militante Opposition der Orthodoxen nichts ausrichten kann. Und schließlich ist es eine Stadt, deren Straßen Tag für Tag so heillos verstopft sind, dass immer Menschen zu spät zur Arbeit kommen, und wo eine aus dem Iran abgefeuerte Rakete, die nach drei Minuten in Tel Aviv einschlagen könnte, eine weitere Stunde benötigen würde – so witzelt man hier –, bis sie einen Parkplatz gefunden hat.

Tel Aviv ist anders – weil es so normal und zugleich auf unspektakuläre Weise sehr israelisch ist. In dieser Kombination kommt die Stadt einer Rettungsinsel in einem oft von Irrsinn geplagten Land gleich. Tel Aviv ist ein Ort, der nicht mehr zu Europa gehört, aber Europa sein möchte – und ein bisschen die politischen Probleme verdrängt.

Niemand redet von außenpolitischen Konflikten, dafür von gestiegenen Mieten. Es ist eine kurzweilige Lektüre, die Michael Guggenheimer dem Leser offeriert, und eine Liebeserklärung an die Stadt seiner Kindheit – witzig, ironisch, meschugge und ein wenig frech, was auch für die Fotos gilt. Ein Lesebuch für Freunde dieser Stadt und für alle, die Tel Aviv demnächst kennenlernen sollten.

Michael Guggenheimer: »Tel Aviv. Hafuch Gadol und Warten im Mersand«. Edition clandestin, Biel 2013, 192 S., 19 €

Andrea Kiewel

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