Moyshe Kulbak

Mensch und Masse

Moyshe Kulbak fasziniert durch seine eigentümliche und lyrische Sprache. Foto: PR

Moyshe Kulbak

Mensch und Masse

Das Buch »Montag« erscheint erstmals auf Deutsch – ein Kleinod jiddischer Weltliteratur

von Tobias Prüwer  02.01.2018 12:33 Uhr

Am Montag gehen die armen Leute betteln. Mordkhe Markus mag diesen Tag viel lieber als den Schabbes. Denn dann begibt er sich unter die Almosenbittenden, hält Reden und verliert sich unter ihnen. Die übrige Zeit verbringt Markus in seinem Dachkämmerchen.

Dort liest der Hebräischlehrer, ein Schwankender und Zerrissener zwischen den Welten, mit Vorliebe im Buch Hiob oder schaut aus dem Fenster. Über diesen Ausblick stellt er Meditationen an, reflektiert das Geschehen in dem namenlosen Schtetl in den russischen Revolutionswirren und wartet auf den nächsten Montag.

Montag heißt denn auch das Buch, in dem Moyshe Kulbak (1896–1937) seinen Protagonisten Mordkhe Markus aus dem Dachfensterchen schauen lässt. Sein 1926 auf Jiddisch verfasstes, poetisches und im Textfluss mäanderndes Werk liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor. Eine verrätselte Welt tut sich im »kleinen Roman«, so der Untertitel, auf.

Oktoberrevolution Die bewusste Passivität des intellektuellen Antihelden steht konträr zum revolutionären Geschehen ringsum. Es tauchen Bewaffnete auf, die Armen – Armenleute nennt sie Kulbak – träumen vom Ende des Elends, alles ist in Aufruhr. Doch Mordkhe Markus übt die innere Einkehr, gibt religiöse und weltliche Literatur wieder und philosophiert über die Subjekt-Objekt-Beziehung. Und löst sich schließlich auf. »Seht, ich lag nachts im Dachkämmerchen, als wäre es mein Körper, und ich hörte die Welt in mir, und dann betete ich zu niemandem.«

Genau 100 Jahre nach der Oktoberrevolution und 80 Jahre, nachdem Kulbak nach einem stalinistischen Schauprozess erschossen wurde, erscheinen seine Reflexionen über Masse und Mensch. Denn insbesondere Menschenaufläufe, das massenhafte Zusammenkommen und die speziellen Eigenschaften dieser Kollektive interessieren Kulbak.

»Die Masse zog etwas auf sich, ein süßes Mitleid. Sie wollte weinen wegen ihres Leids.« – »Daraufhin erregte sie sich wild. Stampfte mit den Füßen. Und in ihren Augen saßen Wahnsinn und Blutrünstigkeit.« – »Aber sie beruhigte sich schnell, die Masse. Sie lächelte auf der Stelle, dümmlich, wie ein Narr, der nichts versteht.« – »Niemand hatte die Masse gesehen.«

Kulbak stellt sich auf seine Weise den zentralen Fragen seiner Generation: Revolution und Apokalypse. Im existenziellen Spiegel von Mordkhe Markus’ Leiden an der Welt verzerren sich die hohlen Larven revolutionärer Phrasen zur Kenntlichkeit. Zugleich scheint Kulbak das Schicksal der Juden in der Stalin-Ära vorauszuahnen oder vorwegzunehmen. »Licht an! Juden, es ist ein Pogrom! Licht an!«, lässt er einen Rufer warnen.

Sprache Zugleich fasziniert der Autor durch seine eigentümliche, lyrische Sprache, die die Übersetzerin Sophie Lichtenstein hervorragend bewahrt hat: »In der Stille hörte man, wie das müde Licht rann, rann, über die kalten Leichen.« Ein bisschen spröde klingt sie an manchen Stellen – »Zir. Zir, zirrr« –, dann ist sie wieder sehr expressiv. Holzschnittartig sind die szenischen Beschreibungen, reduziert, sodass sich der Leser leicht Splitter zuziehen kann, interpretiert er zu viel hinein. Wie in der Draufsicht, die dann gebrochen wird, zieht das Geschehen vorbei.

Wer spricht, ist nicht jederzeit eindeutig. Die Subjekte treten hinter das Objekt zurück. Die Revolution ist wirklich umwerfend, regelt alle Verhältnisse neu. Sie wird zum Fluss, der aus Selbstzweck die Wassermassen mit sich zieht. »Und Maschinengewehre pickten, pickten, klapperten und steppten vorsichtig – es klang vertraut. Wie auf einer Nähmaschine. ›Die Rote Armee soll leben!‹«

Kino

Düstere Dinosaurier, frisches Starfutter

Neuer »Jurassic World«-Film mit Scarlett Johansson läuft in Deutschland an

von Ronny Thorau  01.07.2025

Berlin

Ausstellung »Die Nazis waren ja nicht einfach weg« startet

Die Aufarbeitung der NS-Zeit hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Wendungen genommen. Eine neue Ausstellung in Berlin schaut mit dem Blick junger Menschen darauf zurück

von Lukas Philippi  01.07.2025

München

Fritz-Neuland-Gedächtnispreis gegen Antisemitismus erstmals verliehen

Als Anwalt stand Fritz Neuland in der NS-Zeit anderen Juden bei. In München wird ein nach ihm benannter Preis erstmals verliehen: an Polizisten und Juristen, die sich gegen Antisemitismus einsetzen

von Barbara Just  30.06.2025

Forschung

Digitales Archiv zu jüdischen Autoren in der NS-Zeit

Das Portal umfasst den Angaben zufolge derzeit rund eine Million gespeicherte Informationen

 30.06.2025

Medien

»Ostküsten-Geldadel«: Kontroverse um Holger Friedrich

Der Verleger der »Berliner Zeitung« irritiert mit seiner Wortwahl in Bezug auf den jüdischen Weltbühne-Gründer-Enkel Nicholas Jacobsohn. Kritiker sehen darin einen antisemitischen Code

von Ralf Balke  30.06.2025

Berlin

Mehr Bundesmittel für Jüdisches Museum

Kulturstaatsminister Wolfram Weimer betonte, sichtbares jüdisches Leben gehöre zur Mitte der Gesellschaft

 30.06.2025

Großbritannien

Nach Anti-Israel-Eklat bei Glastonbury: BBC gibt Fehler zu

Ein Musiker wünscht während einer BBC-Übertragung dem israelischen Militär von der Festival-Bühne aus den Tod. Die Sendung läuft weiter. Erst auf wachsenden Druck hin entschuldigt sich die BBC

 30.06.2025

Glastonbury-Festival

Anti-Israel-Parolen: Britischer Premier fordert Erklärung

Ein Musiker beim Glastonbury-Festival in England fordert die Menge dazu auf, Israels Militär den Tod zu wünschen. Der Vorfall zieht weite Kreise

 30.06.2025

Essay

Die nützlichen Idioten der Hamas

Maxim Biller und der Eklat um seinen gelöschten Text bei der »ZEIT«: Ein Gast-Kommentar von »WELT«-Herausgeber Ulf Poschardt

von Ulf Poschardt  29.06.2025