Theater

»Mein Hass-Song auf Berlin«

»Es macht mich traurig, wenn meine Kultur auf den Holocaust reduziert wird«: Marianna Salzmann Foto: Chris Hartung

Frau Salzmann, am 13. Dezember hat Ihr Stück »Wir Zöpfe« – eine Geschichte über vier Generationen einer jüdischen Familie – am Berliner Maxim Gorki Theater Premiere. Haare spielen eine tragende Rolle im Stück. Nadesha, die sich die Haare kurz schneidet, um sich von Mutter Wera abzugrenzen, während ihr Großvater Konstantin seiner alten Haarpracht nachtrauert …
Haare sind ein Symbol für viele Dinge. Mich interessiert jetzt nicht die tatsächliche Frisur, Haare sind erst einmal Unterscheidungsmerkmal. Sie sind im »Dritten Reich« ein Rassifizierungsmerkmal gewesen. Und es ist heute auch noch genauso, dass über Haare Zuschreibungen stattfinden und Menschen aufgrund von ihnen anders angesprochen werden. Dann ist es aber auch so, dass Haare für Schönheit stehen und für einen bestimmten Stand in der Gesellschaft. An Haaren verhandeln wir race, class and gender.

Ich würde »Wir Zöpfe« als muslimisch-jüdisch-christliche Weihnachtskomödie beschreiben. Oder ist Ihnen das zu platt?

Nein, das würde ich auch so sagen! (lacht) Ich wollte ein Stück über Berlin schreiben. Berlin ist für mich muslimisch, jüdisch, christlich. Ungefähr auch in dieser Reihenfolge. Und an Weihnachten kulminiert das Ganze ja. Das wollte ich nicht auslassen. Ehrlich gesagt, kommt das auch aus einer Wut und einem Schmerz durch die Neuerfindung einer sogenannten »christlich-jüdischen« Tradition in Europa. Höflich gesagt, könnte ich über diesen Begriff kotzen. Und ich lasse mich auch nicht instrumentalisieren gegen andere Religionen oder Ethnien. Deswegen möchte ich, wenn wir schon über diese Unterscheidungen sprechen, einige Leute ins Boot holen.

Zum Beispiel trifft Wera, die Jüdin, Russin und Ärztin ist, auf Imran, den kurdisch-türkischen Blumenverkäufer. Braucht es die Stadt als Bühne für solche Konstellationen?

Offensichtlich ja. Wobei ich dabei gar nicht so explizit an Berlin oder Großstadt als Setting gedacht habe. Dieses Aufeinandertreffen ist mir deshalb so wichtig, weil ich das selber erlebe. Ich bin in einer jüdisch-muslimischen Community aufgewachsen und ich habe eigentlich immer eher die Parallelen gesehen. Du hast eine Gastarbeitergeschichte? Wir haben auch eine Gastarbeitergeschichte! Du bist ein Kofferkind? Ich bin auch ein Kofferkind! Ich finde es wichtig zu zeigen: Die Unterschiede, wenn es welche geben sollte, verlaufen ganz woanders.

Im Text heißt es: »… dumm und einsam, Stadt, in der ihr sauft und vögelt und glaubt, das ist der Weltschmerz«. Klingt nicht nach einem positiven Berlin-Bild.

Ja, das ist schon mein Hass-Song auf Berlin, dieses Stück. Aber es ist trotzdem eine meiner Lieblingsstädte. Nur wie das immer so ist mit Geliebten: Man muss ihnen auch sagen, was nicht geht. Ich habe das Stück in Istanbul geschrieben und über meine Stadt Berlin nachgedacht. Ich war angeekelt von ihrer Selbstherrlichkeit. Das war die Distanz, die notwendig war, um zu reflektieren, in welcher Suppe ich eigentlich koche.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte spielt in ihren Stücken eine zentrale Rolle. Sie sprachen in diesem Zusammenhang einmal von »Post-Holocaust«. Was meint das?

Geschichte hört ja nicht auf. Es ist ein komisches Bild, das metaphorisch nicht funktioniert, anzunehmen, eine Vergangenheit sei irgendwann abgeschlossen. Im Gegenteil: Vergangenheit wirkt bis heute. Deswegen habe ich Probleme mit Sätzen wie: »Wir haben alles wiedergutgemacht«. Da gibt es nichts wiedergutzumachen. Das ist aber kein Grund, nicht weiterzuleben oder sich ständig schuldig zu fühlen. Man kann eine Vergangenheit nicht bewältigen, man muss die Gegenwart lesen. Ich finde es auch problematisch, dass die deutsche Tradition heute einfach behauptet, per se judenfreundlich zu sein. Wie Gershom Scholem es fantastisch zusammengefasst hat: »Zu einem Dialog gehören immer zwei«. Dieses Vor-sich-hin-monologisieren und dass Juden dauernd erzählen wie gut es ihnen hier geht, da kann ich nicht mitmachen. Außerdem denke ich, dass es noch mehr zu verhandeln gibt als den Holocaust. Es macht mich traurig, wenn ich sehe, dass meine Kultur darauf reduziert wird.

Was halten Sie eigentlich von Kunstaktionen wie der »Mauerkreuzentführung« »Zentrums für politische Schönheit« zum 9. November, mit der das Festival »Voicing Resistance« am Gorki Theater kürzlich eröffnet wurde?
Da fängt das Problem schon an: Die Aktion war nicht die Kreuzentführung. Die Aktion war das Aufmerksammachen, dass Deutschland und Europa neue Mauern errichten, an denen Menschen sterben. Dafür hat das Zentrum Busse organisiert, um an die europäischen Außengrenzen zu fahren und sich das Problem vor Augen zu führen. In dieser Stadt werden Menschen obdachlos gemacht und leben ohne Rechte. Die Mauerfeierlichkeiten sind doch ein guter Anlass um, über diese Verantwortung zu sprechen. In den Zeiten der Re-Nationalisierung muss die Kunst auch umso radikaler sein.

»Wir Zöpfe« von Marianna Salzmann. Regie Babett Grube. Maxim Gorki Theater Berlin. Premiere 13. Dezember, weitere Aufführungen 15., 19., 25. Dezember, 5. Januar, jeweils 19.30 Uhr, 10. Januar 20 Uhr

www.gorki.de

Marianna Salzmann wurde 1985 in Wolgograd geboren, wuchs in Moskau auf und kam mit ihrer Familie als Zehnjährige nach Deutschland. Sie studierte an der Universität Hildesheim Literatur, Theater und Medien sowie an der Universität der Künste Berlin Szenisches Schreiben. 2013 erhielt sie den Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker. Ihre Stücke wie »Muttersprache Mameloschn« oder »Schwimmen lernen« liefen in Berlin am Deutschen Theater und Maxim Gorki Theater, wo sie seit 2013 auch das »Studio R« leitet.

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