Geschichte

Mehr als 20.000 Kilometer Flucht

Foto: PR

Geschichte

Mehr als 20.000 Kilometer Flucht

Das Buch »Die Kinder von Teheran« erzählt, wie Juden zwischen 1939 und 1943 in der Sowjetunion, Zentralasien und Iran überlebten

von Knut Elstermann  06.11.2021 18:00 Uhr

Familiengeschichten werden nur selten hinterfragt. Wir wachsen mit ihnen auf, sie sind Teil einer überlieferten Folklore, sie waren immer da. Der israelischen Literaturwissenschaftlerin Mikhal Dekel, die in New York lehrt, ging es nicht anders. Sie wusste zwar, dass ihr Vater Hannan 1939 aus Polen geflohen war und auf abenteuerlichen Wegen über die Sowjetunion und den Iran bis nach Palästina gelangte. Doch sie kannte keine Details dieser sich über mehr als 20.000 Kilometer erstreckenden Flucht von 1939 bis 1943.

Selbst Teheran, wo sich der Vater längere Zeit aufgehalten hatte, erschien ihr nicht als die reale Hauptstadt des Iran, dem heutigen, erbitterten Todfeind von Israel. Es war für sie ein märchenhafter, unwirklicher Ort, verwoben mit der familiären Legende. Als Holocaust-Überlebenden sah sie den Vater nicht.

DIMENSION Erst als ihr akademischer Kollege Salar Abdoh sie in New York auf das Schicksal der »Kinder von Teheran« aufmerksam machte, erhielt Mikhal Dekel eine Ahnung von der historischen Dimension. Dekel erkundete die Kindheit im polnischen Ostrów, wo der Vater in eine erfolgreiche Brauerei-Familie hineingeboren wurde, eine im Ort tief verwurzelte, traditionsreiche Dynastie, deren Leben durch den Einmarsch der Deutschen zerstört wurde. Wie Hunderttausende Juden und Polen flohen sie in die Sowjetunion.

Teheran war für die Autorin ein märchenhafter, unwirklicher Ort. Als Holocaust-Überlebenden sah sie den Vater nicht.

Dekels Darstellung ist immer eine Parallelführung von polnischen und jüdischen Schicksalen, denn auch die Kinder von Teheran gehörten zu jener großen, gemeinsamen Fluchtbewegung, die um den halben Erdball führte. Heute spricht man im Iran durchaus mit Stolz von der Rettung der polnischen »Kinder von Teheran«, verschweigt aber, dass sich viele Juden unter ihnen befanden.

Den Vater konnte sie nicht mehr befragen. Er starb im Oktober 1993, ein Jahr nach seiner Pensionierung, er hatte 48 Jahre lang in der israelischen Luftwaffe gedient. Aber sie konnte mit anderen ehemaligen Kindern von Teheran sprechen, darunter ihre Tante Riwka Binyamini, die offenbar über ein erstaunlich genaues Gedächtnis verfügte.

Mikhal Dekel wollte den Erfahrungen des Vaters so nah wie möglich kommen. Sie fuhr an die Stätten seines Leidens, besuchte die Orte in Sibirien, wo fast nichts mehr an die Lager erinnern würde, gäbe es nicht private Gedenk-Initiativen. Dort wurden die Geflüchteten gnadenlos als Zwangsarbeiter ausgebeutet, bevor sie nach Zentralasien umgesiedelt wurden, der Vater kam nach Usbekistan.

HUNGER Dekels Schilderungen des ständigen Hungers, der Misshandlungen, der Krankheiten, der Demütigungen und der Feindseligkeiten einer vom Krieg schwer geschlagenen Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen sind erschütternd und eindringlich. Die historisch genaue Darstellung verbindet sich bei ihr mit dem Mitgefühl für diese geflüchteten Kinder, viele völlig auf sich allein gestellt, schutzlos und ohne Hoffnung, voller Angst um die Angehörigen.

Von Zentralasien aus ging die Flucht weiter nach Teheran, wo die Kinder zum ersten Mal freier atmen und leben können. Jüdische Hilfsorganisationen dürfen die Geflüchteten unterstützen, auch ein religiöses Leben wird wieder möglich. Dekels genaue Analysen der Situation im Iran der Kriegszeit, ihre Untersuchungen des sowjetischen und des britischen Einflusses, der frühen jüdischen Emigration auch aus Deutschland, gehören zu den interessantesten Seiten ihres Buches, die für viele Leser sicher völlig neu sind.

Über Karatschi und Aden, ein weiterer gewaltiger Umweg, gelangten die Kinder von Teheran schließlich 1943 nach Palästina. Sie bildeten schon lange vor der Einwanderung von Holocaust-Überlebenden eine neue Bevölkerungsschicht des kommenden Staates Israel, dem sich Dekels Vater so tief verbunden fühlte.

Es gibt keine Fotos vom langen Leidensweg der jüdischen Kinder im Exil und keine großen Autoren wie den Auschwitz-Überlebenden Primo Levi.

Im Verlauf der Arbeit an diesem Buch von 2007 bis 2019 erweiterte sich Dekels Blick immer mehr. Aus der Familiengeschichte wurde ein umfangreiches Epochenbild, ein beeindruckendes historisches Werk, das die jüdischen Fluchtschicksale in das Weltgeschehen einbettet. Als vergleichende Literaturwissenschaftlerin ist es Mikhal Dekel gewohnt, in globalen Zusammenhängen zu denken und sie anschaulich darzustellen.

RECHERCHELEISTUNG Man gewinnt wirklich den Eindruck, dass Dekel jedes Dokument zu diesem Thema kennt, ihre Rechercheleistung ist ehrfurchtgebietend. Dass wir Leser nicht in der Fülle der Details, der kenntnisreichen Analyse ertrinken, ist der literarischen Gestaltungskraft dieser Autorin zu verdanken. Ihr gelingt es packend, das kollektive Erleben der Geflüchteten zu erzählen und zugleich das Machtgefüge hinter den Schicksalen sichtbar zu machen, die politischen Konstellationen in Hitlers Deutschland und Stalins Sowjetunion, die unmittelbaren Einfluss auf das Leben dieser Kinder hatten.

Mikhal Dekel nimmt uns mit auf diese jahrelange Recherche-Reise, sie lässt uns teilhaben an der Freude über gefundene Beweise und Zeugnisse, an der Erschütterung und Trauer, an Begegnungen und Eindrücken. Diese Ebene der Reflexion und der reportagehaften Schilderungen bezieht die Leserinnen und Leser ein, macht sie zu Gesprächspartnern und Zeuginnen der Wahrheitsfindung. Sie ermöglicht es Dekel, aktuelle, historische Diskurse über Geschichtsrevisionismus, Holocaust-Relativierungen sowie über nationale Gedenkkulturen in Polen, Russland und im Iran kritisch einzubeziehen.

Dekel verweist darauf, dass es, anders als aus den Lagern, keine Fotos vom langen Leidensweg der jüdischen Kinder im Exil gibt und keine großen Autoren wie den Auschwitz-Überlebenden Primo Levi, die ihre Geschichte geschrieben hätten. Aber es gibt dieses ebenso monumentale wie persönliche Buch, das man nicht lesen kann, ohne an die Bilder heutiger Fluchten zu denken, an die Willkür und Gewalt, der Millionen geflüchteter Menschen auf der Welt ausgesetzt sind.

Mikhal Dekel: »Die Kinder von Teheran. Eine lange Flucht vor dem Holocaust«. Aus dem Englischen von Tobias Gabel. wbg Theiss, Stuttgart 2021, 440 S., 28 €

Musik

Louis-Lewandowski-Festival hat begonnen

Der Komponist Louis Lewandowski hat im 19. Jahrhundert die jüdische Synagogenmusik reformiert. Daran erinnert bis Sonntag auch dieses Jahr ein kleines Festival

 18.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Bettina Piper, Imanuel Marcus  18.12.2025

Ausstellung

Pigmente und Weltbilder

Mit »Schwarze Juden, Weiße Juden« stellt das Jüdische Museum Wien rassistische und antirassistische Stereotype gleichermaßen infrage

von Tobias Kühn  18.12.2025

Kulturkolumne

Vom Nova-Festival zum Bondi Beach

Warum ich keine Gewaltszenen auf Instagram teile, sondern Posts von israelischen Künstlern oder Illustratorinnen

von Laura Cazés  18.12.2025

Neuerscheinung

Mit Emre und Marie Chanukka feiern

Ein Pixi-Buch erzählt von einem jüdischen Jungen, der durch religiöse Feiertage Verständnis und Offenheit lernt

von Nicole Dreyfus  18.12.2025

Zahl der Woche

1437

Funfacts & Wissenswertes

 18.12.2025

Revision

Melanie Müller wehrt sich gegen Urteil zu Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was bisher bekannt ist

 18.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  18.12.2025

Los Angeles

Rob und Michele Reiner: Todesursache steht fest

Ihre multiplen Verletzungen seien durch Gewalteinwirkung entstanden, so die Gerichtsmedizin

 18.12.2025