Literaturkritik

Marcel Proust und der Elefant

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Literaturkritik

Marcel Proust und der Elefant

Andreas Isenschmid wirft dem Schriftsteller die Verdrängung seiner jüdischen Identität vor – zu Unrecht, meint unser Rezensent

von Peter Henning  22.10.2022 19:29 Uhr

Auch 100 Jahre nach Marcel Prousts Tod ist die Literaturwissenschaft, genauer: die internationale Proust-Forschung, weit davon entfernt, behaupten zu können, das Werk des genialen, im November 1922 in Paris verstorbenen Franzosen (und hier ist ausschließlich von seinem Riesenroman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit die Rede) durchschaut oder gar abschließend entschlüsselt zu haben.

Im Gegenteil: Zahlreiche Areale dieses in seiner überbordenden Fantasie, seiner beziehungsreichen Motivik und Metaphorik und kaum zu fassenden Personenvielfalt unvergleichlichen Werks liegen literaturwissenschaftlich betrachtet noch immer weitgehend im Dunkeln – und harren ihrer philologischen Durchleuchtung. So auch Prousts zweifellos ambivalentes Verhältnis zum Jüdischen als Sohn einer Jüdin, die ihn katholisch taufen ließ und entsprechend den Gepflogenheiten und Anschauungen des Christentums erzog.

andeutungen Proust selbst hat sich zu Lebzeiten bestenfalls in Andeutungen zu dieser Thematik geäußert. Und auch in seinem Werk fällt die Auseinandersetzung damit im Vergleich zur Ausgestaltung der Dramen der Kindheit seines Protagonisten Marcel, dessen beiden großen Lieben Gilberte Swann und Albertine Simonet oder seinem wahrhaft raumgreifend geschilderten Interesse für den Pariser Stadtteil Faubourg Saint-Germain und an der Homosexualität spärlich aus.

Mit diesem Missstand aufzuräumen, hat sich der 1952 in Basel geborene, seit Jahren in Berlin lebende Literaturkritiker und Proust-Kenner Andreas Isenschmid mit seinem Buch Der Elefant im Raum. Proust und das Jüdische zum Ziel gesetzt. Und mit der markigen Setzung, wonach »das Jüdische, je genauer man hinsieht, von der ersten bis zur letzten Zeile in seinem Werk sehr stark präsent« sei, geht Isenschmid thematisch sogleich in die Vollen.

Tatsächlich belegt ein früher, noch erhaltener Brief Prousts an seine Großmutter, dass der junge Marcel im Bewusstsein seiner jüdischen Herkunft aufwuchs – und darin sowohl jiddische als auch deutsche Ausdrücke verwendete. Ebenso unbestritten ist, dass sein jüdischer Familienzweig, wie Ulrike Sprenger in ihrem famosen Buch Das Proust-ABC schreibt, »dem jungen Proust die Türen zur feinen Gesellschaft des Faubourg Saint-Germain öffnete, wo er andererseits mit dem in Teilen dieser Gesellschaft verbreiteten Antisemitismus konfrontiert wurde, der besonders anlässlich der Dreyfus-Affäre in ganz Frankreich zutage trat«.

identität Dem Juden Proust indes, wie es die neuere Proust-Forschung zuletzt getan hat, latenten Antisemitismus beziehungsweise die Verdrängung seiner jüdischen Identität vorzuwerfen, wie Isenschmid es nun in seinem Buch tut, ist unzulässig. Denn – und das hat Proust selbst stets für sich und sein Werk reklamiert – seine eigene Person mit der seines Ich-Erzählers gleichzusetzen, sei unlauter und nicht statthaft.

Der Franzose, der in seinem Buch das literarische Modell der Transfiguration variantenreich durchexerzierte, indem er dem realen Leben nachgebildete Männer zu Frauen machte und umgekehrt, ist getrennt von seinem Werk zu sehen. So dichtete er die alles geliebte jüdische Mutter im Buch zur gläubigen Christin um, während er den nichtjüdischen Vater darin mit jüdischen Attributen versah.

Und wohl darin findet sich das größte Problem in Isenschmids Essay, dass er nämlich allzu häufig auf grenzwertige Weise die Romanfigur Marcel mit dessen namensgleichem Schöpfer in eins setzt. Entsprechend lässt er nichts unversucht, Proust eine Unterdrückung seiner jüdischen Anteile zu unterstellen, wenn er schreibt: »Er nannte sich nicht Jude, aber im Werk war er es sehr, sehr stark!« Das Jüdische, so Isenschmid weiter, sei im Werk überall präsent. Aus einer Szene, in der Proust die Figur des Juden Bloch »abträglich schildert«, leitet er beflissen eine grundsätzlich negative Einstellung Prousts zum Judentum ab.

Das greift, mit Verlaub, deutlich zu kurz – und wirkt bloß behauptet. Und auch die Wahrnehmung jenes angeblichen »Textbebens«, das Isenschmid auszumachen glaubt, »sobald er (Proust) über das Jüdische« in seinem Werk schreibt, hat der Mann für sich exklusiv! Was hier vielmehr vorliegt, ist ein Fall von Mutmaßungs-Essayistik. Der Verfasser versucht, seine steilen Thesen partout seinem Gegenstand aufzupfropfen – und verliert ihn darüber aus den Augen.

Andreas Isenschmid: »Der Elefant im Raum: Proust und das Jüdische«. Hanser, München 2022, 234 S., 26 €

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