Erinnerung

»Man soll fragen«

»Es ist eine dumme Frage, tut mir leid«, antwortet Anita Lasker-Wallfisch knapp darauf, wie sie sich in Auschwitz gefühlt habe. »Wie soll man sich fühlen? Nicht gut.« Innerhalb von fünf Tagen hat die 94-Jährige im Rahmen des ersten deutschsprachigen »Dimensions in Testimony«-Projekts der Shoah Foundation nahezu 1000, vor allem von Schülern eingereichte Fragen zu ihrer Lebensgeschichte beantwortet. Dabei nahmen 21 Kameras jede ihrer Bewegungen auf. Bereits 2015 wurde sie als eine der ersten teilnehmenden Zeitzeugen für die englische Version des Projekts in Los Angeles aufgenommen.

Cellistin Anita Lasker-Wallfisch wurde 1925 in Breslau geboren und überlebte Auschwitz als Cellistin im Mädchenorchester und Bergen-Belsen. Nach dem Krieg ging sie nach London und wurde Mitbegründerin des English Chamber Orchestra. Im Rahmen der Jüdischen Kulturwochen in Frankfurt hat die Shoah Foundation nun die Testphase des ersten deutschsprachigen interaktiven Zeitzeugnisses mit Anita Lasker-Wallfisch angekündigt.

Das Projekt erlaubt Museumsbesuchern, eigene Fragen an die Projektion der Zeitzeugin zu stellen, denen mittels Spracherkennungssoftware eine Antwort aus zuvor aufgenommenen Videos zugeordnet wird. Ziel des Projekts ist eine interaktive Auseinandersetzung mit Zeitzeugenschaft, die die Erinnerung an die Schoa lebendig halten soll. Mittlerweile wurden 23 interaktive Zeitzeugnisse aufgenommen, die meisten auf Englisch.

KONTEXT Für die deutschsprachige Version hat die Shoah Foundation mithilfe wissenschaftlicher Beratung an deutschen Schulen Interviewfragen spezifisch für den deutschen Erinnerungskontext herausgearbeitet. Wie ihre Haltung zu Deutschland heute ausfällt, hat Anita Lasker-Wallfisch ebenso beantwortet wie Fragen zum Stolpersteinprojekt, zum Mahnmal in Berlin sowie zu ihrer Rede vor dem Bundestag 2018.

Während des Interviews in London ist ihr die Wut über die politische Entwicklung anzumerken.

Bereits während des Interviews, das im März in London aufgenommen wurde, ist Anita Lasker-Wallfisch die Wut über die aktuelle politische Entwicklung anzumerken. »Es gibt keine Sicherheit für jüdische Menschen«, sagt die Schoa-Überlebende, die sich seit Jahrzehnten gegen Antisemitismus einsetzt und nach wie vor regelmäßig für Schulbesuche nach Deutschland reist.

Welche Rolle kann und muss ein Projekt wie Dimensions in Testimony (DiT) also spielen in einer Zeit der Umbrüche, in der digitales Zeitalter und eine Zeit ohne Zeitzeugen ineinander übergehen?

KONTROVERSEN Das Projekt hat international für viel Aufmerksamkeit und Kontroversen gesorgt. Die Diskussion über »Erinnerungscyborgs« (Steffi de Jong), »Untote« und »Auto-Ikonen« (Micha Brumlik) drehte sich dabei vor allem um die Entscheidung, Zeitzeugen so zu filmen, dass eine holografische Darstellung in Zukunft möglich ist. Eine solche Darstellung soll jedoch erst dann stattfinden, wenn Holografie im Alltag angekommen ist, um Technologie nicht ins Zentrum des Projekts zu stellen.

Entgegen zahlreicher Bedenken, die das Projekt als Künstliche Intelligenz missverstehen, kann das interaktive Zeitzeugnis außerdem nur die Inhalte wiedergeben, die Anita Lasker-Wallfisch im Rahmen des Interviews vorgegeben hat. Eine Antwort wird nur dann zugeordnet, wenn diese tatsächlich im selben oder ähnlichen Wortlaut oder in vergleichbarem Kontext gestellt wurde. Inhalte werden kuratiert, aber nicht manipuliert.

Projekt Auch wenn das System Inhalte nur reproduzieren und kein Gespräch mit Zeitzeugen ersetzen kann, lädt es ein zu einem interaktiven und persönlich motivierten Interesse an Erinnerung. Und so sind es gerade die Kontroversen um das Projekt, die eine lebendige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ermöglichen.

Anita Lasker-Wallfischs Hoffnung für das Projekt ist, dass man »sein Gehirn aktiviert«. Sie hofft, dass junge Menschen beginnen, sich mit jüdischer Geschichte und jüdischen Menschen auseinanderzusetzen. »Man soll fragen.« Große Hoffnung, dass die Erinnerung ohne Zeitzeugen weitergegeben werde, hat sie nicht, aber sie will sie auch nicht aufgeben. »Ich versuche, Hoffnung zu haben für die Zukunft«, schließt sie. Alles hänge von der jetzigen Generation ab.

Musik

»Piano Man« verlässt die Bühne: Letztes Billy-Joel-Konzert

Eine Ära geht zuende: Billy Joel spielt nach zehn Jahren vorerst das letzte Mal »Piano Man« im New Yorker Madison Square Garden. Zum Abschied kam ein Überraschungsgast.

von Benno Schwinghammer  26.07.2024

Zahl der Woche

16 Sportarten

Fun Facts und Wissenswertes

 26.07.2024

Lesen!

Ein gehörloser Junge und die Soldaten

Ilya Kaminsky wurde in Odessa geboren. In »Republik der Taubheit« erzählt er von einem Aufstand der Puppenspieler

von Katrin Diehl  25.07.2024

Ruth Weiss

»Meine Gedanken sind im Nahen Osten«

Am 26. Juli wird die Schriftstellerin und Journalistin 100 Jahre alt. Ein Gespräch über ihre Kindheit in Südafrika, Israel und den Einsatz für Frauenrechte

von Katrin Richter  25.07.2024

Streaming

In geheimer Mission gegen deutsche U-Boote

Die neue Action-Spionagekomödie von Guy Ritchie erinnert an »Inglourious Basterds«

von Patrick Heidmann  25.07.2024

Bayreuth

Das Haus in der Wahnfriedstraße

Die Debatten um Richard Wagners Judenhass gehen in eine neue Runde. Nun steht sein antisemitischer Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain im Fokus

von Axel Brüggemann  25.07.2024

Sehen!

»Die Ermittlung«

Der Kinofilm stellt den Aussagen der Zeugen die Ausflüchte der Angeklagten gegenüber

von Ayala Goldmann  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Literatur

Dieses Buch ist miserabel. Lesen Sie dieses Buch!

Eine etwas andere Kurzrezension von Ferdinand von Schirachs Erzählband »Nachmittage«

von Philipp Peyman Engel  24.07.2024 Aktualisiert