Nachruf

Maestro, der Autodidakt

Am Pult: Kurt Sanderling im Jahr 2000 Foto: dpa

Das Taktschlagen könne sich jeder in wenigen Stunden aneignen, dazu brauche es kein Studium, soll Kurt Sanderling einmal gesagt haben. Auch wenn er nie studiert hatte, war er einer der ganz Großen seines Fachs. Am Sonntag ist der Dirigent im Kreis seiner Familie in Berlin-Pankow gestorben.

Geboren wurde Sanderling 1912 im ostpreußischen Arys, dem zweitgrößten Truppenübungsplatz des deutschen Kaiserreichs. Schon als kleiner Junge war er, wie er einmal sagte, »immer dort, wo die Musik spielte« – und begeisterte sich vor allem für Militärmärsche. Die Eltern – der Vater ein Sägewerksverwalter, die Mutter eine musikinteressierte Hausfrau – schicken ihn zur einzigen Klavierlehrerin im Ort. Als sie dem Jungen nach einigen Jahren nichts mehr beibringen kann, verlässt er das Städtchen und zieht über Königsberg nach Berlin. Dort bekommt er als 19-Jähriger eine Stelle als Korrepetitor an der Städtischen Oper in Charlottenburg. Er verliebt sich in Brahms, Bruckner, Beethoven und schaut den großen Dirigenten Bruno Walter, Wilhelm Furtwängler und Otto Klemperer über die Schulter.

Chefdirigent Während einer Italienreise 1935 wird Sanderling die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Der Hilferuf an die Verwandtschaft im Ausland verhallt ungehört – nur ein Onkel in Moskau meldet sich und beschafft ihm ein Visum mit Arbeitserlaubnis. »Zum ersten Mal erlebte ich, dass meine jüdische Abstammung niemanden interessierte«, erinnert er sich später an die 30er-Jahre in der Sowjetunion.

Mehr als 20 Jahre bleibt er dort. Er nimmt die sowjetische Staatsbürgerschaft an und überlebt den Holocaust. 1942 wird er Chefdirigent der Leningrader Philharmoniker, an der Seite des berühmten Jewgeni Mrawinski. In seiner Autobiografie beschreibt Sanderling die Staatskonzerte, die sein Orchester für Stalin spielen muss: »400 Gramm Ballett, 200 Gramm Donkosaken, 200 Gramm Geiger und 100 Gramm Pianist, und das Ganze durfte nicht länger als eine Stunde dauern.«

Ende der 40er-Jahre gewinnt Sanderling die Freundschaft des Komponisten Dimitri Schostakowitsch. Manche sagen, ihr verdanke er sein Überleben. Im Zuge stalinistischer Säuberungen sollte Sanderling nach Birobidschan deportiert werden. Doch Schostakowitsch intervenierte bei Stalin und rettete den Juden aus Deutschland. »Ein Wink von Stalin zu seinem Adjutanten, ein Telefonat nach Leningrad – und der Fall war erledigt«, beschreibt es Sanderling später in einem Interview.

Weltkarriere In der Sowjetunion blieb er trotz aller Bemühungen für viele immer ein Fremder. »Vielleicht habe ich nie wirklich bis in die Tiefen der russischen Seele hineingeleuchtet«, suchte er den Grund dafür bei sich, und wusste doch, dass auch die Einheimischen es ihm nicht leicht machten: »Ich war ehemaliger Ausländer, ausgerechnet Deutscher – und Jude.«

1960 bricht Sanderling seine Zelte ab und geht zurück nach Deutschland, nach Ost-Berlin – in die DDR, ein Land, das er nicht kennt. Er träumt von einem eigenen Orchester. Dieser Wunsch erfüllt sich gleich zwei Mal: Er wird Chefdirigent des Berliner Sinfonie-Orchesters und leitet von 1964 bis 1967 zugleich auch die Staatskapelle Dresden. Die Werke Gustav Mahlers, Johannes Brahms und Dimitri Schostakowitschs liegen ihm in dieser Zeit besonders am Herzen.

Nach seinem 65. Geburtstag 1977 geht er in Rente – und beginnt eine zweite Karriere. Er ist international gefragt, reist um die Welt und dirigiert in den großen Konzertsälen Europas und Amerikas. Vor neun Jahren dann steht er zum letzten Mal am Pult. Am Montag, wenige Stunden nach seinem Tod, wäre Kurt Sanderling 99 Jahre alt geworden.

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  07.11.2025