Übersetzungen

Lost in Translation

Iris Idelson-Shein interessiert sich für den kulturellen Transfer zwischen Christen und Juden. Foto: Astrid Ludwig

Überfluss kann zuweilen entmutigend sein, selbst für einen wissenshungrigen Forschergeist. Nur so lässt sich wohl erklären, dass sich bisher kaum jemand an das Thema heranwagte. Geht es um jüdische Übersetzungen vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert, so türmt sich deren Zahl und Vielfalt an Literatur, an Quellen in verschiedenen Sprachen, unterschiedlichen Disziplinen und Epochen zu einem Berg von einschüchternder Höhe.

»Bisher ist kein Versuch unternommen worden«, sagt Iris Idelson-Shein, »sich mit der Gesamtheit der jüdischen Übersetzungen in der Frühen Neuzeit auseinanderzusetzen.« Reichweite, geografische Verbreitung, Entwicklung und Quellen sind weitgehend unbekannt. Kontext und Bedeutung dieser Texte für die jüdische Geschichte blieben zumeist unerforscht. Bis jetzt – die Historikerin will diese Forschungslücke nun füllen.

NEUZEIT Die 40-Jährige, die an der Universität Tel Aviv studiert und promoviert hat, ist seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Martin-Buber-Professur für jüdische Religionsphilosophie und Gastdozentin am Seminar für Judaistik der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Der Europäische Forschungsrat hat der jüdischen Nachwuchsforscherin den prestigeträchtigen, mit 1,5 Millionen Euro dotierten »ERC Starting Grant« zugesprochen – eine finanzielle Unterstützung, mit deren Hilfe sich Idelson-Shein nun der Mammutaufgabe stellen will. »Alleine wäre ein solches Projekt für mich nicht zu bewältigen gewesen«, freut sie sich über die Förderung.

Von 2019 an wird sie mit einem fünf- oder sechsköpfigen Team fünf Jahre lang die Übersetzungen und deren Bedeutung für die jüdische Geschichte erforschen.

Grundlage sind die Texte, die vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert als Übersetzungen aus anderen Sprachen entstanden sind. Sie prägten wesentlich das Leben, die Kultur, Literatur und Geschichte der Juden in der frühen Neuzeit. Da die meisten von ihnen in Europa zu dieser Zeit Texte in nichtjüdischen Sprachen nicht lesen konnten, hing ihr Zugang zu den kulturellen Entwicklungen Europas fast ausschließlich von solchen Übersetzungen ab. Ziel des Forschungsprojektes wird sein, daraus den nichtjüdischen Textkorpus zu identifizieren, der für die Entstehung des modernen Judentums prägend war.

Grundlage sind Texte, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert entstanden sind.

»Ich interessiere mich schon seit vielen Jahren für den kulturellen Transfer zwischen Christen und Juden«, erklärt die israelische Wissenschaftlerin ihre Beweggründe. Fasziniert ist sie von der einzigartigen Stellung, die Juden im Europa der frühen Neuzeit innehatten – als Einwohner und gleichzeitig Außenseiter –, und wie diese Perspektive ihre Einstellung zu Nichtjuden geformt hat.

»Übersetzungen waren ein wichtiger Anknüpfungspunkt zwischen Juden und ihrer Umgebung. Vergleicht man jüdische Übersetzungen mit der nichtjüdischen Quelle, offenbaren sich kulturelle Missverständnisse, veränderte Bedeutungen oder Selbstzensur. Das gewährt uns ungewöhnliche Einblicke etwa darin, was jüdische Schreiber beschlossen, ihren Lesern mitzuteilen, aber auch, was sie ungesagt ließen«, sagt Idelson-Shein. Die Übersetzungen sind Zeugen des kulturellen Austauschprozesses zwischen Christen und Juden der frühen Moderne und auch »seiner Grenzen, Fallstricke und Fehler«, wie sie betont.

DIASPORA Faszinierendes Beispiel ist für sie das hebräische Buch Gevulot aretz aus dem 18. Jahrhundert von Rabbiner Abraham ben Elijah von Vilnius, der ein bekannter jüdischer Erneuerer und religiöser Denker war. Gevulot aretz wurde auf Hebräisch veröffentlicht, ohne Erwähnung des eigentlichen Autors oder einen Hinweis, dass es sich um eine Übersetzung handelt. »Mit dem Ergebnis, dass zeitgenössische Schüler das Buch als Originalwerk ben Elijahs betrachten und nicht mehr versucht haben, die Textquelle zu finden«, so Idelson-Shein. Es wurde vielmehr als traditionelles Werk gesehen, das von der Geschichte der Juden in der Diaspora handelt.

Idelson-Shein fand hingegen heraus, dass es sich bei dem überwiegenden Teil von Elijahs Buch um die Übersetzung und Adaption der Histoire Naturelle von Georges-Louis Leclerc de Buffon handelt, einem berühmten Werk aus dem 18. Jahrhundert. Sie verglich die Texte und stellte fest, dass der Rabbiner das Buch »eines Denkers der französischen Aufklärung und zudem eines suspekten Gottesgläubigen«, so die Wissenschaftlerin, radikal zu einem traditionellen jüdischen Werk umgeformt hatte. Für sie ein Lehrbeispiel für verdrehte Übersetzungen, Vorurteile und schulische Erwartungen, »die ich mit meinem Forschungsprojekt bekämpfen will«.

ZENTRUM Für ihr interdisziplinäres Forscherteam muss Idelson-Shein Mitarbeiter gewinnen, die gleich mehreren Aufgaben gewachsen sind: Sie müssen mit jüdischen und nichtjüdischen literarischen Systemen vertraut sein und sich mit historischen, literarischen oder auch kulturellen Forschungsmethoden auskennen. Das Team besteht aus Historikern und Germanisten, es muss die jüdische Halacha kennen, Jiddisch sprechen, Hebräisch, Judäo-Italienisch oder auch Ladino, das mittelalterliche Spanisch, das die sefardischen Juden sprechen. Drei Mitglieder, freut sich Iris Idelson-Shein, hat sie schon rekrutieren können, weitere sollen folgen.

Die Mitarbeiter müssen Jiddisch, Hebräisch, Judäo-Italienisch und Ladino lesen können.

In Frankfurt, sagt Idelson-Shein, sind die Bedingungen für ihre Forschung ideal. An der Goethe-Universität gibt es die Hebraica- und Judaica-Bibliothek, die Ende des 19. Jahrhunderts durch großzügige Spenden jüdischer Stifter entstand und als eine der bedeutendsten Spezialsammlungen auf dem europäischen Kontinent gilt. Mit der Martin-Buber-Professur für jüdische Religionsphilosophie, dem Seminar für Judaistik, internationalen Konferenzen, bedeutenden Gastdozenten und neuen Forschungsschwerpunkten wie dem Projekt »Religiöse Positionierung« habe sich Frankfurt zu einem Zentrum für jüdische Geschichte, insbesondere auch der frühen Neuzeit, entwickelt, lobt die Wissenschaftlerin.

Musik

»Piano Man« verlässt die Bühne: Letztes Billy-Joel-Konzert

Eine Ära geht zuende: Billy Joel spielt nach zehn Jahren vorerst das letzte Mal »Piano Man« im New Yorker Madison Square Garden. Zum Abschied kam ein Überraschungsgast.

von Benno Schwinghammer  26.07.2024

Zahl der Woche

16 Sportarten

Fun Facts und Wissenswertes

 26.07.2024

Lesen!

Ein gehörloser Junge und die Soldaten

Ilya Kaminsky wurde in Odessa geboren. In »Republik der Taubheit« erzählt er von einem Aufstand der Puppenspieler

von Katrin Diehl  25.07.2024

Ruth Weiss

»Meine Gedanken sind im Nahen Osten«

Am 26. Juli wird die Schriftstellerin und Journalistin 100 Jahre alt. Ein Gespräch über ihre Kindheit in Südafrika, Israel und den Einsatz für Frauenrechte

von Katrin Richter  25.07.2024

Streaming

In geheimer Mission gegen deutsche U-Boote

Die neue Action-Spionagekomödie von Guy Ritchie erinnert an »Inglourious Basterds«

von Patrick Heidmann  25.07.2024

Bayreuth

Das Haus in der Wahnfriedstraße

Die Debatten um Richard Wagners Judenhass gehen in eine neue Runde. Nun steht sein antisemitischer Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain im Fokus

von Axel Brüggemann  25.07.2024

Sehen!

»Die Ermittlung«

Der Kinofilm stellt den Aussagen der Zeugen die Ausflüchte der Angeklagten gegenüber

von Ayala Goldmann  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Literatur

Dieses Buch ist miserabel. Lesen Sie dieses Buch!

Eine etwas andere Kurzrezension von Ferdinand von Schirachs Erzählband »Nachmittage«

von Philipp Peyman Engel  24.07.2024 Aktualisiert