Ost und West

»Deutschland muss sich nicht angleichen«

Der Liedermacher und Dichter Wolf Biermann Foto: imago images/snapshot

Ost und West

»Deutschland muss sich nicht angleichen«

Wolf Biermann: Die Ostdeutschen haben das Pech, dass sie nicht eine Diktatur hinter sich haben, sondern zwei Diktaturen

 09.11.2021 10:31 Uhr

Der Liedermacher Wolf Biermann (»Ermutigung«) hält unterschiedliche Wahlergebnisse, Sichtweisen und Einschätzungen zwischen Ost und West nicht für ein Problem. »Wieso muss es sich eigentlich angleichen? Was ist denn das für eine neue Religion?«, sagte der Autor vor seinem 85. Geburtstag (15. November) der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. »Ich habe nichts dagegen«, räumte Biermann ein, »aber ich weiß doch, dass die Menschen durch ihre eigenen Erfahrungen, mit ihrem eigenen Körper, mit ihrer eigenen Seele, mit ihrem eigenen Verstand geprägt werden.«

Biermann verwies auf unterschiedliche Erfahrungen in beiden Teilen des Landes. »Die Ostdeutschen haben eben das Pech, dass sie nicht eine Diktatur hinter sich haben, sondern zwei Diktaturen.« Das habe Folgen. »Auch in einer Diktatur lernt man Sachen, die man später gut brauchen kann. Aber man lernt auf keinen Fall das, was man braucht, um in der Demokratie zu leben.«

SYSTEMWECHSEL Der Liedermacher verwies auf seine eigenen Erfahrungen mit dem Systemwechsel zwischen DDR und BRD. »Als ich in den Westen geschmissen wurde, 1976 ausgebürgert wurde, ging es mir geradezu komisch schlecht. Ich jammerte rum«, sagte der Liedermacher, der nach einem Konzert in Köln nicht mehr in den Osten zurückkehren durfte. »Ich brauchte viele Jahre, um die Demokratie unserer Gesellschaft zu lernen.«

Autobahnen, Häuser und Brücken ließen sich relativ schnell wieder aufbauen, das hätten die Deutschen erlebt etwa nach dem Zweiten Weltkrieg. »Aber die Verwüstungen in den Menschen sind komplizierter, komplexer und langwieriger.«

GEDULD Aus Sicht Biermanns ist weiter Geduld notwendig. »Sonst ist man ja sein Leben lang enttäuscht im falschen Hoffen. Das heißt aber nicht, dass man sich abfinden muss mit dem Zustand, der verbessert werden muss. Aber man soll auch nicht hysterisch verzweifelt sein«, sagte er.

Hysterie sei keine Charakterschwäche, sie habe immer vernünftige, nachvollziehbare, richtige, echte Gründe. »Falsch ist nur das Maß. Das gilt für die Einschätzung eines einzelnen Menschenexemplars, damit man ihm gegenüber nicht ungerecht ist. Aber das gilt auch für gesellschaftliche Formen des Zusammenlebens, für Gesellschaftsstrukturen.« dpa

Lesen Sie mehr zu Biermanns 85. Geburtstag und seinem neuem Buch »Mensch Gott!« in der kommenden Printausgabe der Jüdischen Allgemeinen.

Interview

Susan Sideropoulos über Styling-Shows und Schabbat

GZSZ-Star Susan Sideropoulos hat im ZDF die neue Makeover-Show »That’s My Style«. Nur wenige wissen jedoch, wie engagiert die Enkelin jüdischer NS-Opfer gesellschaftspolitisch ist

von Jan Freitag  13.06.2025

Aufgegabelt

Pastrami-Sandwich

Rezepte und Leckeres

 12.06.2025

Streaming

Doppelte Portion Zucker

Mit »Kugel« ist den Machern der Kultserie »Shtisel« ein vielschichtiges Prequel gelungen

von Nicole Dreyfus  12.06.2025

TV-Tipp

Das Schweigen hinter dem Schweinderl

»Robert Lembke - Wer bin ich« ist ein kluger Film über Verdrängung, Volksbildung und das Schweigen einer TV-Legende über die eigene Vergangenheit. Nur Günther Jauch stört ein wenig

von Steffen Grimberg  12.06.2025

Kulturkolumne

Annemarie, Napoleon und ich

Gute Bücher wachsen mit, hat mein Großvater immer gesagt. Warum »Desirée« von Annemarie Selinko uns alle überleben wird

von Sophie Albers Ben Chamo  12.06.2025

Aufgegabelt

Himbeer-Sorbet mit Zaatar

Rezepte und Leckeres

 12.06.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  12.06.2025

Imanuels Interpreten (10)

Kenny Gorelick: Das Enfant Terrible

Er ist der erfolgreichste Jazz-Musiker – und der meistgehasste. Warum eigentlich?

von Imanuel Marcus  12.06.2025

Medien

Deutschlands Oberlehrer

Wer will noch mal, wer hat noch nicht? In diesen Tagen scheint die Diffamierung Israels oberste Bürgerpflicht zu sein. Ein Kommentar

von Michael Thaidigsmann  11.06.2025 Aktualisiert