Einblicke

Lieben im Schtetl

Foto: Diogenes

Wie unterhaltsam Jiddisches doch sein kann, wenn es mit britischem Humor erzählt wird! Die Hochzeit der Chani Kaufman ist der erste Roman der 1973 geborenen Eve Harris. Die Tochter polnisch-israelischer Eltern, die viele Jahre an einer jüdisch-orthodoxen Mädchenschule unterrichtet hat, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in ihrer Geburtsstadt London. Dort spielen auch die wichtigsten Szenen ihres Romans, der einen gut recherchierten Einblick in den orthodoxen Heiratsmarkt vermittelt.

Chani Kaufman ist die Tochter des Rabbiners einer kleinen jüdischen Gemeinde in Golders Green, dem nordwestlichen Stadtteil Londons, in dem vorwiegend orthodoxe Juden wohnen. Die Familie Kaufman ist arm, aber der Rabbiner wird als Mentsch geehrt, also als »besonders guter Mensch«. Dieser Mentsch hat zusammen mit seiner Frau acht Töchter. Chani ist eine der mittleren. Da die Brauteltern die Hochzeiten ausrichten müssen, hat es schon ein kleines Vermögen gekostet, die älteren Töchter zu verheiraten. Jetzt ist die ebenso hübsche wie eigensinnige Chani an der Reihe, und von den komplizierten Spielregeln, die orthodoxe Familien dabei einhalten müssen, von den Kupplerinkünsten der unvermeidlichen Schadchanit, handelt dieser eindrucksvolle Roman.

unterschiede Ganz unorthodox hat der 20-jährige Baruch Levy ein Auge auf Chani geworfen. Der angehende Rabbiner stammt aus einer sehr wohlhabenden Familie, die gar nicht erbaut über seine Wahl ist. Baruchs Mutter stört sich vor allem an der finanziellen Dürftigkeit der Kaufmans und versucht, ihrem Sohn alle möglichen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Vergebens, am Ende setzen sich die beiden Brautleute gegen ihre Eltern durch. Das ist ein uralter Topos in der Literatur. »Gleichheit ist allein das feste Band der Liebe«, heißt es etwa in Lessings Minna von Barnhelm, und zwischen den Kaufmans und den Levys herrscht in Vermögensdingen eben keine Gleichheit.

Aber was genau heißt »Liebe« in einer orthodoxen Eheanbahnung? Chani und Baruch durften sich vor der Hochzeitsnacht nicht einmal berühren, geschweige denn ihre Zuneigung zu Liebe wachsen lassen. Aus Widersprüchen wie diesen zwischen den orthodoxen Regeln in beiden Familien und liberaleren, vielleicht auch moderneren Ansichten gewinnt Eve Harris die Spannung. Der Leser wirft dabei einen kultur- und religionsgeschichtlich vertiefenden Blick auf das authentische Leben in orthodoxen Familien und Gemeinden.

Ein zweites Paar erlaubt der Autorin, Zeit und Ort des Geschehens teilweise zu verlegen: nach Jerusalem im Jahre 1982. Chaim Zilberman und Rebecca Reuben haben sich damals an der Hebräischen Universität kennengelernt. Chaim entwickelt sich vom liberalen Studenten zum konservativen Rabbiner, und Rebecca entschließt sich, aus Liebe zu ihm an seiner Seite zu leben, lange Röcke und keine Jeans mehr zu tragen und ihr Haar unter einem Scheitel zu verstecken.

Nachdem ihr erstes Kind bei einem Verkehrsunfall um Leben gekommen ist, kehren sie nach London zurück, um noch einmal neu anzufangen. Hier entwickelt sich der angesehene Rabbiner Chaim Zilberman zum orthodoxen Familienvater, der seiner mehr Freiheiten gewohnten und sich nach diesen zurücksehnenden Frau ein gänzlich neues Leben zumutet – bis es zwischen beiden gehörig kracht.

rebbetzin Diese Rebbetzin ist nun die Frau, die Chani auf ihre Hochzeit vorbereitet. Auf diese Weise verknüpft die Autorin geschickt die beiden im Wechselspiel erzählten Stränge des Romans. Dessen Stärke liegt in dem leichten Ton, in dem Harris von fundamentalen Fragen zwischen Gott und der Welt, zwischen Regeln und Freiheiten, zwischen Moral und vielleicht doch nur menschengemachter Gottgefälligkeit erzählt. Wie nebenbei entsteht dabei ein vielschichtiges Porträt der jüdischen Gemeinden von Golders Green. Die von der Autorin erfundenen Personen wachsen dem Leser aus der vermeintlichen Homogenität dieser Gemeinschaft so plastisch entgegen, sie entwickeln ihre je eigene Ausprägung von Frömmigkeit, deren Vielfalt verblüfft und beglückt.

Der Roman bietet auch nicht etwa Handreichungen für ein »richtiges« Leben. Er entfaltet vielmehr ein Panorama jüdischen Lebens in London und unterhält mit jüdischem Witz und britischem Humor bestens. Das gelingt mit literarischen Mitteln, die auf den Einsatz von Raffinement oder Eleganz verzichten, und stattdessen die Alltäglichkeit angemessen und auf wunderbare Weise wiedergeben. Dabei wachsen einem besonders die mutigen Frauengestalten der Chani und der Rebbetzin Zilberman ans Herz. Dem jung vermählten Paar im Roman und der Debütautorin möchte man am Ende deshalb auch zurufen: Mazel Tov!

Eve Harris: »Die Hochzeit der Chani Kaufman«. Roman. Deutsch von Kathrin Bielfeldt. Diogenes, Zürich 2015, 464 S., 16 €

Kino

Düstere Dinosaurier, frisches Starfutter

Neuer »Jurassic World«-Film mit Scarlett Johansson läuft in Deutschland an

von Ronny Thorau  01.07.2025

Berlin

Ausstellung »Die Nazis waren ja nicht einfach weg« startet

Die Aufarbeitung der NS-Zeit hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Wendungen genommen. Eine neue Ausstellung in Berlin schaut mit dem Blick junger Menschen darauf zurück

von Lukas Philippi  01.07.2025

München

Fritz-Neuland-Gedächtnispreis gegen Antisemitismus erstmals verliehen

Als Anwalt stand Fritz Neuland in der NS-Zeit anderen Juden bei. In München wird ein nach ihm benannter Preis erstmals verliehen: an Polizisten und Juristen, die sich gegen Antisemitismus einsetzen

von Barbara Just  30.06.2025

Forschung

Digitales Archiv zu jüdischen Autoren in der NS-Zeit

Das Portal umfasst den Angaben zufolge derzeit rund eine Million gespeicherte Informationen

 30.06.2025

Medien

»Ostküsten-Geldadel«: Kontroverse um Holger Friedrich

Der Verleger der »Berliner Zeitung« irritiert mit seiner Wortwahl in Bezug auf den jüdischen Weltbühne-Gründer-Enkel Nicholas Jacobsohn. Kritiker sehen darin einen antisemitischen Code

von Ralf Balke  30.06.2025

Berlin

Mehr Bundesmittel für Jüdisches Museum

Kulturstaatsminister Wolfram Weimer betonte, sichtbares jüdisches Leben gehöre zur Mitte der Gesellschaft

 30.06.2025

Großbritannien

Nach Anti-Israel-Eklat bei Glastonbury: BBC gibt Fehler zu

Ein Musiker wünscht während einer BBC-Übertragung dem israelischen Militär von der Festival-Bühne aus den Tod. Die Sendung läuft weiter. Erst auf wachsenden Druck hin entschuldigt sich die BBC

 30.06.2025

Glastonbury-Festival

Anti-Israel-Parolen: Britischer Premier fordert Erklärung

Ein Musiker beim Glastonbury-Festival in England fordert die Menge dazu auf, Israels Militär den Tod zu wünschen. Der Vorfall zieht weite Kreise

 30.06.2025

Essay

Die nützlichen Idioten der Hamas

Maxim Biller und der Eklat um seinen gelöschten Text bei der »ZEIT«: Ein Gast-Kommentar von »WELT«-Herausgeber Ulf Poschardt

von Ulf Poschardt  29.06.2025