Pädagogik

Lebenslanges Lernen

Die jüdische Tradition stellt das Wissen an die höchste Stelle: gemeinsames Lernen zu Schawuot an einer Jeschiwa in Kfar Etzion. Foto: Flash 90

Ab Sonntag feiern wir Schawuot, das Fest, bei dem an die Übergabe der Tora und damit an die Vereinigung des jüdischen Volkes erinnert wird und bei dem das (lebenslange) Lernen im Mittelpunkt steht. Für mich, als Jüdin und als Professorin gleichermaßen, ist das jedes Jahr aufs Neue ein Anlass, um darüber nachzudenken, welche Bedeutung das Lernen im Judentum hat.

Wir lernen in der Schule, studieren dann ein wissenschaftliches Fach an der Hochschule oder erlernen gleich einen Beruf. Mit dieser Bildung eignen wir uns ein Wissen über die Welt an, das uns mit Zeugnissen bescheinigt wird und uns für bestimmte Aufgaben in der Gesellschaft qualifizieren soll.

»Mischna-Lernverein der Holzfäller aus der Stadt Berditschew« stand in dem Einband des Buchs.

Auch sonst lernen wir, wie wir uns in der Gesellschaft zurechtfinden können, welches Verhalten sich an welchem Ort zu welcher Zeit gehört oder eben gerade nicht. Und den meisten leuchtet es im Verlauf ihres Lebens doch des Öfteren ein, »dass man ja auch nicht auslernt«. Dabei ist weniger diese mit dem Sprichwort verbundene Erkenntnis verwunderlich, als vielmehr die Annahme, dass man überhaupt jemals aufhören würde zu lernen.

POTENZIAL Im Judentum ist es unter anderem das lebenslange Lernen, das uns als Menschen ausmacht, unser Wesen beflügelt und es uns ermöglicht, unser Potenzial zu verwirklichen. Das Lernen ist also auch auf uns selbst gerichtet. Dies bedeutet, Erfahrungen zu machen, diese zu reflektieren, offen für Neues zu sein, nach dem Sinn in der Welt zu suchen, sich in ihr nicht nur instinktiv wie Tiere zu verhalten, sondern sich spontan zu ihr in Beziehung zu setzen und sie mit dem eigenen Handeln zu gestalten. Mag damit auch eine andauernde Dynamik verbunden sein, beliebig ist das Lernen in der jüdischen Tradition nicht.

Dass es auf die Tora bezogen ist, bezeugt Schawuot, entstand das jüdische Volk doch durch die Übergabe der Tora. Das jüdische Volk hat die Übergabe verschlafen und musste von Gott geweckt werden, deshalb bleiben wir in der Nacht an Schawuot wach, um in der Synagoge Tora zu lernen.
Jedes Jahr lesen wir sie, das ganze Jahr über, um zu lernen.

Als höchstes Gebot stellt das Lernen der Tora eines der drei zentralen Prinzipien des Judentums (»Lernen«, »Emuna« und »Handeln«) dar. Die Tora ist nicht nur die Quelle allumfassenden Wissens, eine »Gebrauchsanweisung« für das Leben und zur Annäherung an Gott und seine Eigenschaften, sondern sie zählt als »Instruktion«, die Gott vor der Erschaffung der Welt kreierte und mit der Gott unsere Welt erschafft.

schlussfolgerungen Woran es liegt, dass diese Gedanken eventuell nicht zugänglich oder mit einer Anstrengung verbunden erscheinen? Natürlich daran, was und wie wir gelernt haben und welche Schlussfolgerungen wir daraus für uns selbst gezogen haben.

Das, was wir als Bildung, Qualifizierung und Aneignung von Wissen aus unserem Leben kennen und mit dem Lernen verbinden, ist wohl doch etwas anderes. Dieses Lernen weist uns einen Platz in der Gesellschaft zu, der wiederum mit Anerkennung, es zu etwas gebracht zu haben, oder Angst, den Anforderungen nicht zu entsprechen, einhergeht. Deshalb ist dieses Lernen so wichtig, markiert es doch nicht nur unsere Möglichkeiten, in der Gesellschaft so zu leben, wie wir es wünschen, sondern folgt Rav Shimshon Pinkus zufolge auch der menschlichen Natur, sich die Welt lernend, also sehend und erkundend, anzueignen und sich somit als Teil ihrer zu erfahren.

Diese Eigenschaft des Menschen lässt sich mit einer Erzählung unserer Weisen über Adam illustrieren (Talmud, Chagiga 116), dessen Größe sich von Anfang bis zum Ende des Universums erstreckte und das sich schließlich zu seiner Körpergröße zusammenschrumpfte.

entwicklung Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Adam den Weisen nach ebenso breit wie groß gewesen ist. Im übertragenen Sinn auf die Eigenschaft des Menschen bezogen, bedeutet dies, dass man sich die Welt horizontal und vertikal aneignen kann. Rav Pinkus erklärt diese beiden Arten zu lernen und stellt eine historische Entwicklung fest.

Die früheren Generationen haben sich der stehenden oder aufrechten Position Adams entsprechend mit der spirituellen vertikalen Säule des Toralernens auseinandergesetzt und damit intensiv an der Beziehung zu Gott gearbeitet.

In den letzten Generationen änderte sich der Zustand wesentlich, beginnend mit der Aufklärung und der Aneignung anderer Quellen des Lernens, mit der Schoa und der damit einhergehenden Auflösung der Jeschiwot, des Verlusts der Toraweisheiten von Gdolei Hador, der Weisen der Generation, sowie durch die Auslöschung eines Großteils des jüdischen Volkes, aber auch mit der Säkularisierung nach 1945, die zur Anpassung an die Gesellschaften der westlichen Demokratie und des so­wjetischen Kommunismus führte. Aus und mit der Tora zu lernen, stand nicht mehr an höchster Stelle, und auch heute hat sich die Bedeutung gemindert.

generationen So eignen wir uns in den letzten Generationen die Welt in der horizontalen Weise wie noch nie zuvor an – ähnlich wie die Position von Adam liegend: durch Reisen, durch das Internet, durch die Wissenschaft, durch das unstillbare Bedürfnis nach Informationen, den Verheißungen unserer mit Bildung zertifizierten Lernerfolge und den aus ihnen folgenden und stets maximierbaren Möglichkeiten einer erfolgreichen Karriere, des materiellen Lebens und Wohlstands.

Im übertragenen Sinne kann man sich dem nicht entziehen, und manche von uns haben in den vergangenen Monaten voller Homeoffice oder -schooling auch tatsächlich ab und zu mal im Liegen gelernt. Dem Judentum nach ist es nun aber Pflicht, Tora zu lernen, damit in einen ständigen Lernprozess einzutreten und sich im übertragenen Sinne daran aufzurichten. Im religiösen Sinn beginnt dieser Lernprozess schon vor der Geburt, prägt unsere Seele und dauert so über den Tod hinaus. Das Lernen hat also einen Anfang, aber kein Ende. Die Grundsteine des Lernens aus jüdischer Perspektive sind die Veränderung und der freie Wille.

Das jüdische Lernen ist also nicht entkoppelt von uns selbst, wie wir das Lernen aus den Bildungsinstitutionen kennen, in denen wir uns außerhalb unseres Selbst stehendes, abrufbares Wissen aneignen und eventuell mit der Zeit wieder vergessen. Es setzt voraus, dass man sich selbst und das eigene Leben mit dem Gelernten in Beziehung setzt, und mündet darin, sich als Synthese der eigenen Charaktereigenschaften auszudrücken. Das Gelernte kann diametral unterschiedlich verstanden und erlebt werden, wenn man es durch die Brille der Gnade (Rachamim) oder des Urteils (Din) oder der Balance der beiden auslegt und in die Welt setzt.

Als prozesshaftes Lernen kommt es eben nicht an ein Ende, es fußt darauf, immer weiter Neues im Gelernten zu entdecken, kontroverse und konfliktträchtige Sichtweisen zuzulassen und sie zu kontextualisieren, Kuschia, eine schwierige, widersprüchliche Frage in der Tora, vielfältig auszudiskutieren und eigene Fehler als wichtig einzusehen, weil sie nicht als Makel im formalisierten Lernprozess, sondern als Chance für die geistige Entwicklung gelten.

WISSEN Die jüdische Tradition stellt das Wissen an die höchste Stelle. Der Talmud (Horajot 13a) lehrt, dass ein Weiser (Chacham) wichtiger ist als der König Israels, denn dieser ist im Gegensatz zum König, den das ganze Volk Israel ersetzen kann, nicht ersetzbar. Auch hier markiert es einen Kontrasthorizont zum Lernen, wie wir es kennen, denn wir versprechen uns vom Lernen einen Vorteil gegenüber anderen und erfahren uns doch, obwohl wir allerlei Gelerntes beherrschen, als im Grunde jederzeit ersetzbar – zumindest in der heutigen Berufswelt.

Der Rambam verdeutlicht in Mischne Tora, dass die Lernpflicht im Judentum für jeden gleichermaßen gilt: Jeder, egal ob reich oder arm, alt oder jung, krank oder gesund, muss ständig Tora lernen.
Ein Beispiel veranschaulicht die Umsetzung des Lerngebots bei Erwachsenen: Es sind die vom NS-Regime verschonten Mischna-Bücher, auf denen der Stempel »Mischna-Lernverein der Holzfäller aus der Stadt Berditschew« Auskunft darüber gibt, dass das Lernen unabhängig von Schicht oder Macht erfolgte.

Rav Adin Steinsaltz erklärt den Stellenwert des jüdischen Lernens mit einer Rechtsdiskussion im Talmud darüber, wie man agieren soll, wenn der Zeuge nicht in der Lage ist, das Geschehen mit seiner Unterschrift schriftlich zu bestätigen.

Das Lernen wird im Judentum nicht als abstraktes Aneignen von Wissensstoff verstanden.

Die Diskussion geht schließlich in die Frage über, warum ein jüdisches Kind weder lesen noch schreiben kann. Das Fazit: Das Kind wurde nicht in einer jüdischen Umgebung erzogen. Denn Lernen und Bildung haben in der jüdischen Erziehung höchste Priorität. Das jüdische Recht verbot den Eltern bereits vor 2000 Jahren, so der amerikanische Rabbiner Joseph Telushkin, in einer Stadt zu leben, in der es keine jüdische Schule gab.

Für die Kinder aus armen Familien war der Toraunterricht kostenlos. Und nachdem ein jüdisches Kind zu sprechen begann, lernte es die Schrift – häufig mit Plätzchen in Buchstabenform als Belohnung –, damit es mit fünf Jahren anfangen kann, die Tora zu lernen, mit zehn die Mischna und mit 15 den Talmud. Traditionell wurden die Kinder also durch die Tora gebildet.

TIKKUN Das Lernen wird im Judentum nicht als abstraktes Aneignen von Wissensstoff oder als Hirnmuskeltraining verstanden, sein Wert auch nicht an praktischen Zwecken oder in der Gesellschaft verwertbarem Nutzen bemessen, sondern es ist darauf ausgerichtet, von der liegenden in die aufrechte Position zu gelangen. Es ist ein Teil vom Tikkun, also der Persönlichkeitskorrektur durch die dem freien Willen folgende Arbeit am Selbst, mit der man konstant sich und damit die Welt verbessert und sie zu dem für Gott angenehmen Aufenthaltsort als höchstes Gebot anstrebt.

Man lernt ununterbrochen, um sich zu korrigieren, etwas in der Welt zu verbessern. Es setzt voraus, dass die Möglichkeit, etwas zu korrigieren, immer existiert, solange man lebt: Solange die Kerze brennt, solange die Seele im Körper bleibt, kann man noch an sich arbeiten und etwas korrigieren, lernt Rabbi Salanter den Spruch von einem Schuhmacher. »Dank aller meiner Lehrer habe ich Weisheit gelernt«, heißt es in den Psalmen, um die Bereitschaft zu betonen, in jeglicher Interaktion eine Lehre zu sehen.

Dabei postuliert Ben Soma in der Mischna: »Wer ist der Weise? Derjenige, der von jedem lernt.« Auch in der ethischen jüdischen Lehre (Musar) wird es uns beigebracht zu lernen, die eigenen negativen Charaktereigenschaften in die positiven umzulenken. Wir können also unser gewohntes Lernen in die richtige Bahn lenken und uns an der Tora aufrichten. So zum Beispiel, indem wir uns nicht in der gewohnten Konkurrenz zu anderen verlieren und ihnen etwas neiden, sondern die damit verbundene Anstrengung in Wissensdurst umleiten und mehr in innerliche Ressourcen investieren.

gesellschaft Allerdings ist das nicht einfach, in einer Gesellschaft, in der wir gelernt und erfahren haben, dass es eben auch darauf ankommt, etwas zu leisten und besser als andere zu sein. Das damit verbundene Lernen, wie wir es kennen, ist wie im Liegen zu lernen. An der Tora jedoch können wir uns aufrichten und mit dem Lernen die Bedingungen der Möglichkeit erschließen, wie wir besser leben können.

Die Weisheit, die aus dem Lernen der Tora als kohärentes System und Lebensanweisung folgt, steht in keiner Konkurrenz mit allen anderen Formen des Lernens, wie wir es kennen. Wir haben alle die Wahl, horizontal oder vertikal zu lernen, uns aufzurichten und uns individuell und kollektiv der Herausforderung zu stellen, die beiden Dimensionen durch den Lernprozess zu vereinbaren. Ausschließlich im Liegen zu lernen, ist auf Dauer nicht gut.

Die Autorin ist Professorin und hat den Lehrstuhl für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Sciences inne.

Alexander Estis

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