Clowndoctors

»Lachen ist Hoffnung«

Wie der Schauspieler Giora Seeliger seine Leidenschaft für Theater und Pantomime entdeckte

von Alicia Rust  05.08.2022 12:17 Uhr

Giora Seeliger (68) ist überzeugt: Humor kann Grenzen überwinden. Foto: Gregor Matthias Zielke

Wie der Schauspieler Giora Seeliger seine Leidenschaft für Theater und Pantomime entdeckte

von Alicia Rust  05.08.2022 12:17 Uhr

Humor ist wie eine Brücke, die Menschen unterschiedlichster Herkunft miteinander zu verbinden vermag. Er kann entwaffnend sein oder – was das betrifft – genau das Gegenteil. Für Giora Seeliger, den Begründer von »Rote Nasen« und »Red Noses Clowndoctors International«, ist Humor aber vor allem ein Ausdruck der Hoffnung.

Dass seine Eltern mit ihm und seiner Schwester im April 1957 ins Land der Täter zurückkehrten, war ursprünglich gar nicht geplant. Eigentlich sollte Deutschland kaum mehr als ein kurzer Zwischenstopp sein, auf dem Weg ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Amerika.

kalifornien Eine »Entschädigung« durch das sogenannte Wiedergutmachungsabkommen vom 10. September 1952 sollte den Grundstock für eine bessere Zukunft in Kalifornien legen, wo bereits Verwandte lebten – so weit der Plan. Doch dann kam alles anders.

»Meine Eltern waren klassische Jeckes, bei uns zu Hause in Haifa wurde Deutsch gesprochen.«

Giora Seeliger

Für »rückkehrwillige Juden«, die in Deutschland bleiben wollten, gab es weitere wirtschaftliche Anreize. »Meine Eltern merkten schnell, dass Deutsch trotz alledem ihre Sprache war, dass sie mit den Gepflogenheiten in Deutschland vielleicht besser zurande kommen würden«, erinnert sich Giora Seeliger. Warum also nicht bleiben, anstatt sich im fernen Amerika nur wie Fremde oder Nobodys zu fühlen?

So lebten sich die Seeligers nach rund 23 Jahren in Haifa wieder in jenem Land ein, in dem ihnen einst alles genommen worden war. »Meine Eltern waren klassische Jeckes, bei uns zu Hause in Haifa wurde stets Deutsch gesprochen, insbesondere mein Vater tat sich mit dem Hebräischen immer etwas schwer«, sagt Seeliger.

scheinehe Seine Eltern hatten sich 1937 in Palästina kennengelernt. Ein Jahr darauf hatten sie bereits den Bund fürs Leben geschlossen. Beide waren Mitte der 30er-Jahre aus Nazideutschland nach Palästina ausgewandert. Die Mutter musste deshalb sogar eine Scheinehe eingehen, die sogleich wieder geschieden wurde.

»Meine Mutter kam aus Leverkusen. Dort hatte ihre Familie eine Feinbäckerei, eine Konditorei und ein Lebensmittelgeschäft.« Die Familie Nathan stellte gar das erste Catering-Unternehmen für die Direktoren von Bayer Leverkusen.

Die Eltern stammten aus dem Bergischen Land und vom Niederrhein. Sein Vater, ursprünglich ein gelernter Textilkaufmann, kam hingegen aus Marienburg, damals noch Ostpreußen, dem einstigen Hochsitz des Deutschen Ritterordens, wo seine Familie einen Viehhandel betrieb.

Spuren 1936 kehrte Seeligers Mutter Hertha unter größter Gefahr für eine kurze Zeit aus Palästina nach Deutschland zurück, um ihre Eltern nachzuholen – jedoch vergeblich. Sie wurden nach Köln zwangsevakuiert, wo ihr Vater schwerste Zwangsarbeit im Straßenbau verrichten musste.

Einige Jahre darauf, vermutlich 1942, erfolgte die Deportation der Eltern nach Lodz. Dort verlieren sich ihre Spuren. Ihre einzige Schwester hatte es mit 17 Jahren durch eine Heirat noch nach Kolumbien geschafft. Von all dem ahnte Giora Seeliger als Kind noch nichts. Er bemerkte wohl, dass die Eltern immer dann ihre Stimmen senkten, wenn über die Vergangenheit gesprochen wurde.

Bei der Ankunft in Düsseldorf war er gerade einmal vier Jahre alt, seine Schwester Ilana hingegen schon 13. »Aufgrund des Altersunterschieds war sie natürlich vollkommen anders sozialisiert als ich. Mit 19 ist sie von zu Hause ausgezogen und zurück nach Israel gegangen, wo sie bis heute lebt.«

heimat Die neue alte Heimat der Eltern war vertraut und fremd zugleich. Diese ambivalente Haltung, das Misstrauen gegenüber jenen, die das Land einst »judenrein« hatten machen wollen, blieb zeitlebens bestehen. Die Aufnahme in die jüdische Gemeinde in Düsseldorf hingegen, die damals rund 1500 Mitglieder hatte, empfand die Familie als großes Glück. »Eine sehr nette und intakte jüdische Gemeinde, nicht so versnobt wie etwa in Frankfurt oder Berlin«, sagt Seeliger und strahlt. »Wir fühlten uns auf Anhieb willkommen.«

Einige seiner schönsten Kindheits- und Jugenderinnerungen habe er der Zionistischen Jugend in Deutschland zu verdanken.

Einige seiner schönsten Kindheits- und Jugenderinnerungen habe er der ZJD, der Zionistischen Jugend in Deutschland, zu verdanken. Und natürlich dem Jugendzentrum in Düsseldorf. »Dort spielten wir Theater, machten Ausflüge, an den Montagen gab es zum Beispiel eine Email-Werkstatt.« Viele der Erlebnisse und Begegnungen aus jener Zeit, beispielsweise mit dem beliebten Jugendleiter David Blumenthal, bestärkten ihn in seinem Wunsch, Erziehungswissenschaften zu studieren. »Irgendwie habe ich etwas von dieser schönen Zeit zurückgeben wollen.«

Und außerhalb dieses jüdischen Kokons? »Der Kontakt zu nichtjüdischen Kindern war kein Problem«, erzählt Seeliger, der von sich sagt, er sei in der Volksschule immer der Klassenclown gewesen.

liebe Nur bei der Liebe habe die Toleranz der Eltern aufgehört. »Als sich meine Schwester in einen deutschen Jungen verliebte, hing bei uns der Haussegen schief.« Damals, gegen Ende der 50er- und Anfang der 60er-Jahre, wehte noch ein anderer Wind.

Für seine Eltern wäre ein Deutscher als Schwiegersohn unvorstellbar gewesen, schließlich hatten beide viele ihrer Angehörigen verloren. »Alle vier Großeltern, Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins, rund 80 Prozent der Familie waren ermordet worden. Meine Großeltern mütterlicherseits in Lodz, väterlicherseits in Auschwitz.« Auf allen Totenscheinen stand derselbe Eintrag: verstorben am 8. Mai 1945.

Unter Kindern spielte all das indes kaum eine Rolle. Giora Seeliger liebte das Theaterspiel im Jugendzentrum oder bei der ZJD. Schon früh trat seine Begabung zutage, andere Menschen zu berühren, sie zu unterhalten und zum Lachen zu bringen. »Damit habe ich meine Bestimmung gefunden. Ich hatte keinerlei Scheu, auf der Bühne zu stehen.«

rechtfertigung Sehr deutlich hingegen spürte er das schlechte Gewissen der Eltern seiner deutschen Mitschüler und Freunde, die natürlich allesamt niemals Nazis gewesen sein wollten. Und so gab es häufiger Antworten und Erklärungen – buchstäbliche Rechtfertigungsversuche – auf nicht gestellte Fragen.

War denn seine jüdische Herkunft so offensichtlich? Seeliger bejaht. »Wir haben kein Geheimnis daraus gemacht. Schon bei der Nennung meines Vornamens, Giora, war eigentlich alles klar.«

Nach dem Abitur und dem Grundstudium in den Sozialwissenschaften, das er sich mit einem Job als Assistent des Bildhauers Bert Gerresheim verdiente, erkannte Seeliger, dass es ihn doch wieder auf die Bühne zog. Unterdessen hatte sich das gesellschaftliche Klima verändert. Die 68er machten ihrer Wut gegen den braunen Mief Luft. Vieles wurde ausprobiert, nun schien beinahe alles möglich.

»Und so wurde ich eine Zeit lang zum Hippie«, lacht Seeliger. Erstmals tauchte er in eine nichtjüdische Welt ein. Bemüht, Israel als ein Land wie viele andere zu betrachten. Seeliger widmete sich der Musik, der Kunst, ein unbedarfter junger Mann im Afrolook, inspiriert durch Theater und Tanz. Bald schon sollte er erste Workshops geben.

Pantomime In Frankreich wurde Seeliger bei Étienne Decroux vorstellig. Er lernte die Kunst der Pantomime und machte eine Ausbildung als »Mime corporel«. Möglich wurde dies durch ein Stipendium eines Sammlers von Bert Gerresheim, der das junge Talent fördern wollte, begleitet durch Gespräche über die unglaubliche Welt der Kunst und ihre vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten.

Der Rest seiner Laufbahn liest sich wie eine einzige Erfolgsgeschichte.

Erste Erfolge verstärkten seinen Wunsch. Schon während der Ausbildung ging es mit einem Studienfreund nach Brasilien; die Theatergröße Luís Otávio Burnier hatte dort 20 Auftritte organisiert. Die beiden Mimen aus Europa wurden von der Presse gefeiert, was Seeliger bestärkte, diesen Weg weiterzugehen.

Wie haben seine Eltern reagiert? »Die haben etwas sehr Schönes gemacht«, sagt der Sozialunternehmer, Theater- und Filmschauspieler, Coach und Mime. »Sie haben mich machen lassen, auch wenn sie nicht gleich ganz verstanden, was ihr Sohn da genau vorhatte.« Zurück aus Brasilien, besuchte er die renommierte Theaterschule von Jacques Lecoq, eine Talentschmiede, die angefangen von der griechischen Tragödie bis hin zur italienischen Comedia alles abdeckte, was zum Repertoire der modernen Pantomime gehört.

Nomade Der Rest seiner Laufbahn liest sich wie eine einzige Erfolgsgeschichte. Zwei Jahre war er beim »Théâtre de l’Espoir«. Danach gründete er eine eigene Theaterkompanie, das »Théâtre de Falaise«. Gemeinsam mit seiner Partnerin Catherine Briantais sollte er dann acht Jahre lang kreuz und quer durch Europa touren.

Nebenher begann Seeliger, Clown-Unterricht zu geben, seine Workshops galten als sehr beliebt. In Wien, wo es ihm besonders gut gefiel, wurde der globale Nomade schließlich sesshaft und eröffnete ein eigenes Theateratelier. Seither unterrichtete Seeliger, den es als Schauspieler immer wieder auch in die Welt des Films zieht, am renommierten Max Reinhardt Seminar.

Seeliger lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Wien. Die »Roten Nasen«, von ihm Anfang 1994 gegründet, gibt es mittlerweile auch in Jordanien und den Palästinensischen Autonomiegebieten. Darüber hinaus reisen die beliebten Clowndoctors an Krisenorte, in Flüchtlingscamps oder Auffanglager. Für den Film »Murer – Anatomie eines Prozesses« erhielt Giora Seeliger zusammen mit dem Team den Deutschen Schauspielpreis.

Und was ist sein Lebensmotto nach alledem? »Humor kann Grenzen überwinden!« Und woher schöpft er seine unerschütterliche Zuversicht? »Aus dem Lachen an sich!«

Im Herbst kommt der Film »Schächten« (Drehbuch und Regie: Thomas Roth) in die deutschen Kinos. Giora Seeliger spielt darin einen jüdischen Arzt.

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