Dori Pinto

Kosmische Perspektive

Foto: PR

Dori Pinto

Kosmische Perspektive

Der israelische Autor zeichnet in »Mond über Jerusalem« ganz unaufgereg die Apollo-Mission nach

von Daniel Hoffmann  22.10.2022 19:31 Uhr

Wäre Dori Pinto ein etablierter israelischer Schriftsteller, der mit seinen Veröffentlichungen auch deutschen Lesern bereits Freude bereitet hätte, würde man seinen jetzt im Schweizer Verlag Kein & Aber auf Deutsch erschienenen Roman Mond über Jerusalem als Werk eines routinierten Romanciers bezeichnen. Pinto, 1958 in Jerusalem geboren, legt hier jedoch sein Erstlingswerk vor, das, als es 2020 in Israel erschien, mit dem renommierten Sapir-Preis für das beste Debüt ausgezeichnet wurde.

Die Souveränität, mit der Pinto die Romanhandlung aufgebaut hat, ist erstaunlich. Sie spielt am 16. Juli 1969 und erzählt von den Alltagserlebnissen von fünf zunächst nicht miteinander verbundenen Personen wenige Tage vor der ersten Mondlandung. Im Verlauf der Handlung begegnen sie einander, wenn auch nur für kurze, flüchtig bleibende Momente.

protagonisten Pinto erzählt die Geschichte seiner fünf Protagonisten in einem unaufgeregten Stil. Zwar stirbt der eine von ihnen am Ende des Tages, der aus Berlin stammende Chaim Zemach, der gerade erst sein Rentnerdasein begonnen hat, und ein kleiner Junge, Charlie Ben Hemo, dessen Mutter ihren im Sechstagekrieg gefallenen Mann noch immer betrauert, ertrinkt beinahe im Schwimmbecken der Badeanstalt, jedoch nimmt Pinto aus den Schilderungen dieser Ereignisse den dramatischen Schwung heraus und reiht sie in die Vorkommnisse eines Alltags ein, der bereits durch die Aussicht auf die erste Landung von Astronauten auf dem Mond eine unüberbietbare Dramatik besitzt.

Durch sie könnten die Ereignisse des Alltags auf der Erde durchaus unbedeutend erscheinen. Pinto gibt ihnen jedoch die nötige Wertschätzung, weil sich in ihnen die Lebensnöte seiner Protagonisten verdichten. Die Mondlandung hat die alte Vorstellung von der zentralen Position des Planeten Erde im Weltall endgültig ad acta gelegt.

Dieser kosmischen Perspektive stellt Pinto die Lebensläufe seiner fünf Prota­gonisten gegenüber, die alle an diesem Tag auf die eine oder andere Weise den für sie passenden Platz im Leben suchen. Der Halbwaise Charlie ist das beste Beispiel für diese Suche, aber auch Beth, die kanadische junge Frau, die in Jerusalem als Englischlehrerin arbeitet, befindet sich auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben.

mondfahrt Das Ereignis der Mondfahrt begleitet zwar die Erlebnisse der fünf Personen, dominiert aber weder ihre Gedanken noch ihre Gefühle an diesem Tag. Denn der 16. Juli 1969, an dem die Menschheit einem großen Schritt entgegensieht, ist für Pintos Figuren der 1. Aw, ein Neumondtag, der ihnen persönlich eine Änderung ihres Lebens beschert. Für sie sind andere Bezüge von Bedeutung, zwischenmenschliche und innerweltliche.

Der aus dem bosnischen Mostar stammende Baruch Katan, der in einer Konditorei arbeitet, begegnet an diesem Tag Beth, die ihm zum Abschluss ihres Einkaufs herzlich ihre Hand reicht – eben dem Mann, der in den vergangenen Tagen im Viertel für Unruhe gesorgt hat, weil er Frauen von hinten umarmt und sich an sie gedrückt hat. Dieses beängstigende Liebesverlangen entschärft Beth durch ihre Geste. Es sind diese Momente, die den Roman ausmachen.

Zu ihnen gehört auch, wie die Blicke des arabischen Müllmanns Said immer wieder während seiner Arbeit zu seiner alten Wohnung auf dem Dach eines Hauses zurückkehren, in der er mit seiner Frau nach einem Wanderleben als Kinder von Zirkusartisten endlich das ersehnte Zuhause gefunden hatte. 1948 hat er jedoch aus dieser Geborgenheit fliehen müssen.

Charlie, der vaterlose Junge, liest an diesem 16. Juli den Brief eines Kameraden seines Vaters an seine Mutter. Aus ihm erfährt er, »wie gerade die scheinbar marginalen Kleinigkeiten besonders wichtig sein können und wie gerade sie (…) die großen Dinge verdeutlichen, die anders gar nicht zu begreifen sind«. Von diesen Kleinigkeiten erzählt Dori Pinto, damit die große Sache der Mondlandung für die Menschheit überhaupt in ihrem Sinn verständlich werden kann. Es sind Erlebnisse des Neumondtages, die für die fünf Protagonisten einen Wendepunkt ihres Lebens bedeuten.

Dori Pinto: »Der Mond über Jerusalem«. Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber, Zürich-Berlin 2022, 400 S., 25 €

Restitution

»Das Ausmaß hat uns überrascht«

Daniel Dudde über geraubte Bücher, Provenienzforschung an Bibliotheken und gerechte Lösungen

von Tobias Kühn  15.07.2025

Haskala

Medizin für die jüdische Nation

Aufgeklärte jüdische Ärzte sorgten sich um »Krankheiten der Juden«. Das wirkte auch im Zionismus nach

von Christoph Schulte  15.07.2025

Literatur

Vom Fremden angezogen

Die Schriftstellerin Ursula Krechel, Autorin des Romans »Landgericht«, wird mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet

von Oliver Pietschmann  15.07.2025

Interview

»Eine Heldin wider Willen«

Maya Lasker-Wallfisch über den 100. Geburtstag ihrer Mutter Anita Lasker-Wallfisch, die als Cellistin das KZ Auschwitz überlebte, eine schwierige Beziehung und die Zukunft der Erinnerung

von Ayala Goldmann  15.07.2025

Musik

Zehntes Album von Bush: »Wie eine Dusche für die Seele«

Auf ihrem neuen Album gibt sich die britische Rockband gewohnt schwermütig, aber es klingt auch Zuversicht durch. Frontmann Gavin Rossdale hofft, dass seine Musik Menschen helfen kann

von Philip Dethlefs  15.07.2025

Medien

Die Deutsche Welle und Israel: Mitarbeiter werfen ihrem Sender journalistisches Versagen vor

Die Hintergründe

von Edgar S. Hasse  14.07.2025

TV-Tipp

Der Mythos Jeff Bridges: Arte feiert den »Dude«

Der Weg zum Erfolg war für Jeff Bridges steinig - auch weil der Schauspieler sich gegen die Erfordernisse des Business sträubte. Bis er eine entscheidende Rolle von den Coen-Brüdern bekam, die alles veränderte

von Manfred Riepe  14.07.2025

Musik

Der die Wolken beschwört

Roy Amotz ist Flötist aus Israel. Sein neues Album verfolgt hohe Ziele

von Alicia Rust  14.07.2025

Imanuels Interpreten (11)

The Brecker Brothers: Virtuose Blechbläser und Jazz-Funk-Pioniere

Jazz-Funk und teure Arrangements waren und sind die Expertise der jüdischen Musiker Michael und Randy Brecker. Während Michael 2007 starb, ist Randy im Alter von fast 80 Jahren weiterhin aktiv

von Imanuel Marcus  14.07.2025