Festival

»Klang der historischen Wahrheit«

Leon Botstein (71), Ehrendirigent des Jerusalem Symphony Orchestra Foto: dpa

Wenn Musik zwei Gesichter hat und das eine strahlend lächelt, gute Laune verbreitet, ein wahres Fest der Schönheit ist, und das andere eher von Arbeit geprägt ist, vom Denken, vom Üben, nie freudlos, wohl aber konzentriert und ernst, dann sind das die beiden Gesichter, die man diesen Sommer im österreichischen Grafenegg studieren kann. Auf dem Areal eines historischen Schlosses, mitten im eindrucksvollen Schlossgarten, erhebt sich ein modernes Auditorium und eine avantgardistische Open-Air-Bühne aus Beton, die den Namen »Wolkenturm« trägt.

Hier in Niederösterreich, gut 60 Kilometer von Wien entfernt, findet alljährlich das Grafenegg Festival statt. Gerade wurde es mit der obligatorischen Sommernachtsgala eröffnet. Die Sopranistin Pretty Yende, der Tenor Joseph Calleja und die Cellistin Harriet Krijgh gaben sich ein Stelldichein. Seit elf Jahren lockt Pianist Rudolf Buchbinder die größten Orchester, Dirigenten und Solisten der Welt in den Schlosspark und feiert das hübsche Gesicht der Musik: anspruchsvolles Repertoire in einer natürlichen Kulisse.

campus Aber Grafenegg versteht sich als auch so etwas wie das Tanglewood Österreichs: ein lauschiger Ort, an dem die Arbeit an der Musik, die Förderung der musikalischen Exzellenz und der Diskurs auf dem Programm stehen. Dafür wurde nun der Grafenegg Campus gegründet. Verantwortlich dafür ist der Ehrendirigent des Jerusalem Symphony Orchestra und der Präsident des renommierten Bard College bei New York, Leon Botstein.

Junge Komponisten und Musiker haben hier die Möglichkeit, gemeinsam mit einem Composer-Conductor in Residence an ihrer Arbeit zu feilen, Workshops werden gegeben, das Publikum wird zu kostenlosen Proben eingeladen. Im Orchester der Grafenegg Academy spielen Musiker aus 28 unterschiedlichen Ländern, außerdem schlägt das European Union Youth Orchestra hier im Sommer seine Zelte auf.

Leon Botstein – laute Stimme, in Schwarz gekleidet und stets mit markanter Hornbrille – nutzt eine Probepause, um mit den jungen Musikern ins Gespräch zu kommen, und debattiert mit den Nachwuchs-Interpreten die Nuancen bei Hindemith, Schoenberg und Krenek. Das Thema der diesjährigen Academy lautet: »Europa 1918/2018 – musikalische Herausforderungen in brüchigen Zeiten«. Leon Botstein leitet die Academy und den Campus in Grafenegg. Und er hat sich viel vorgenommen.

Diskurs Musik ist für den Schüler von Hannah Arendt immer auch ein gesellschaftlicher Diskurs. »Als Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde«, sagt er bei einem Spaziergang durch den Schlosspark, »war mir sofort klar, dass auch wir Künstler einen Auftrag haben.« Kurzerhand hat er das Programm seines US-Orchesters umgestellt und der Saison das Thema »Musik und Demokratie« gegeben.

»Vieles in unserer Welt mag heute frustrierend sein«, sagt Botstein, »manches sogar ausweglos: die Situation in meiner Heimat, den USA, die Situation im Land meiner Eltern, in Polen, überhaupt in Europa, dem ich mich so sehr verbunden fühle. Aber allen politischen Tendenzen zum Trotz: Ich bin ein hoffnungsloser Optimist geblieben.«

Der Weg durch den Park vom alten Schloss zum modernen »Wolkenturm« ist fast schon symbolisch: ein Spaziergang aus der Geschichte in die Zukunft. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist für Botstein, dessen Eltern als Juden aus Polen in die Schweiz flohen und weiter in die USA zogen, die Grundlage für unsere Gegenwart und unsere Zukunft.

Umbrüche »Der Beginn aller Despoten besteht darin, die Unwahrheit über die Vergangenheit zu erzählen, um so die Möglichkeiten der Zukunft zu verengen. Deshalb habe ich für die erste Academy das Thema 1918 gewählt, weil es ein Jahr war, das ohne Unterlass mythologisiert wird. Ein Jahr, aus dessen Umbrüchen wir auch heute noch viel lernen können.«

Ein Grund für seinen Optimismus ist die Arbeit mit den jungen Musikern. »Wenn ich hier in Grafenegg stehe und mit dem Orchester an einem durchaus anspruchsvollen Programm arbeite, erlebe ich pure Begeisterung«, sagt Botstein. »Ihr Engagement, ihre Leidenschaft und ihr Interesse an komplexen musikalischen und gesellschaftlichen Vorgängen ist bemerkenswert.«

Man könnte denken, dass die Grafenegg Academy mit all ihrer Ernsthaftigkeit, ihrer harten Arbeit im Weinberg der Musik und ihrer Relevanz für das Gesellschaftliche und Politische im Gegensatz zum eher schillernden und gut gelaunten Grafenegg-Festival steht, das in den nächsten Wochen unter anderem die Staatskapelle Dresden mit Alan Gilbert, die Wiener Philharmoniker mit Franz Welser-Möst und Hilary Hahn mit dem Radio Philharmonique de Radio France empfängt.

Aber der Gegensatz dieser Welten ist vielleicht das, was dieses Festival und die Musik überhaupt ausmacht: auf der einen Seite die Schönheit der harten Arbeit, das Nachdenken über die Musik, auf der anderen das Fest des Klanges und die große Bühne für ihre durchaus auch ernsthafte Wahrhaftigkeit und Schönheit.

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