Offener Brief

»Keine staatlich finanzierte Bühne für Antisemitismus«

Maram Stern, Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

Nachfolgend dokumentieren wir den Offenen Brief des Geschäftsführers des Jüdischen Weltkongresses an die Kulturstaatsministerin des Bundes, Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen)

Liebe Frau Roth,

Ich verstehe Sie nicht. Wirklich nicht. Genauer gesagt, ich verstehe nicht, wie Sie Ihr Amt als Kulturstaatsministerin verstehen.

Glauben Sie, Ihre Aufgabe bestünde darin, großzügig Steuergelder für Filmförderung, Literaturfestivals, Museen und Kunstausstellungen zu verteilen? Nichts gegen Kulturförderung, aber die Verteilung dieser Mittel könnte bequem durch eine nachgeordnete Behörde erfolgen, dafür braucht man keine Spitzenpolitikerin.

Eine solche braucht es nur, wenn man nicht nur Kulturförderung, sondern tatsächlich Kulturpolitik betreiben möchte. Dazu gehört dann aber auch, sich mit den unangenehmen, weil strittigen Fragen zu beschäftigen. Unnötig zu betonen, dass Antisemitismus im Kunstbetrieb in diese Kategorie fällt.

Das scheinen Sie aber anders zu sehen. Nicht, dass Sie Antisemitin wären. Gegen diesen Vorwurf würde ich Sie bei all meiner Frustration über Ihre Politik immer verteidigen. Auch nicht, dass Sie Antisemitismus für unproblematisch hielten. Nein, Sie halten den Antisemitismus anderer in der Kulturszene für ein gravierendes Problem. Aber nicht für Ihres.

Schon nach der documenta haben Sie wortreich die dort ausgestellten judenfeindlichen Kunstwerke beklagt, sich aber geweigert, Verantwortung zu übernehmen. Das Gleiche wiederholte sich bei der Berlinale. Ganz so, als wären Sie nur eine ganz normale Besucherin des Festivals und nicht die zuständige Ministerin. Im Interview mit dem »Spiegel« erklären Sie, Ihre Rolle sei es, »mit dafür zur sorgen, dass solche Ereignisse nicht so ablaufen«. Volle Zustimmung!

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Das heißt aber auch, dass Sie mit verantwortlich dafür sind, wenn Sie es doch tun. Davon allerdings lese ich in diesem Interview kein Wort. Stattdessen fahren Sie direkt im Anschluss fort: »Genau deshalb ist es jetzt so wichtig aufzuklären, wie es so weit kommen konnte.« Wie naiv kann man eigentlich sein? Verstehen Sie nicht oder wollen Sie nicht verstehen, oder vielleicht können Sie nicht verstehen?

Bereits im Vorfeld der documenta sind zahlreiche Warnungen in den Wind geschlagen worden. Spätestens danach aber hätte jedem klar sein müssen, dass Antisemitismus im Kulturbetrieb mehr als eine Randerscheinung ist. Wenn die documenta schon ein Skandal mit Ansage war, dann war die Berlinale ein Skandal, der aus riesigen Boxen in ohrenbetäubender Lautstärke angesagt worden ist.

Vor vier Monaten sind in Israel mehr als 1000 Juden ermordet, vergewaltigt und verstümmelt worden. Seitdem ist die Anzahl der judenfeindlichen Straftaten weltweit explodiert. Auf der ganzen Welt fühlen sich Juden bedroht, jüdische Gemeinden nicht mehr sicher. Und leider haben wir auch erlebt, dass gerade aus Künstler- und Intellektuellenkreisen die Mörder der Hamas in Schutz genommen und deren Gräueltaten als legitimer Akt des Widerstands verteidigt werden – als seien die jüdischen Opfer selbst schuld an ihrem Schicksal.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Israels Krieg gegen die Hamas zur Verteidigung auf der anderen Seite wurde nicht als Reaktion auf den Massenmord, sondern als gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Aggression interpretiert. Und dann sind Sie, Frau Roth, erstaunt, dass auf der Bühne der Berlinale vom israelischen »Völkermord« und vom »Abschlachten der Palästinenser« geschwafelt wird? Lesen Sie eigentlich keine Zeitung?

Es geht dabei nicht, um diesen Einwand vorwegzunehmen, um das Unterbinden von Kritik an Israel. Man kann den israelischen Krieg im Gazastreifen für falsch halten oder das Vorgehen der IDF für unverhältnismäßig. Man darf die Frage stellen, ob die Zahl der zivilen Opfer das Ziel rechtfertigt. All das sind legitime Fragen, über die sich trefflich und sachlich streiten lässt.

Wer aber vom »Genozid« faselt, ist an einer sachlichen Diskussion nicht interessiert, dessen Geschäft ist die Verteuflung eines ganzen Staates. Dafür darf es keine öffentliche und staatlich finanzierte Bühne geben, schon gar nicht in Deutschland.

Ich dachte, es sei allen klar, aber vielleicht muss ich es noch einmal ganz deutlich sagen: Die Situation von uns Juden war immer prekär. Wir waren immer in der Minderheit, wir sind über Jahrtausende diskriminiert, bedroht, verfolgt und sogar ermordet worden. Glücklicherweise hat sich unsere Situation in Deutschland in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Frei von Anfeindungen und Bedrohungen war sie jedoch nie. Seit dem 7. Oktober aber haben wir wieder Angst.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

In dieser Situation erwarten wir die volle Rückendeckung der deutschen Politik und keine Halbherzigkeiten.

Wenn Kunst antisemitisch wird, wenn Künstler sich antisemitisch äußern, dann, Frau Roth, ist Ihr Platz nicht an der Seite der Künstler, sondern an der der Juden.

Maram Stern
Geschäftsführender Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  07.11.2025