Ethik

Keine Panik!

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Klimawandel, Energiekrise, Deindustrialisierung, Inflation, soziale Gerechtigkeit, strukturelle Diskriminierung, Krieg, Flucht, Migration, Kulturkampf, Pandemie – frei nach Sarah Kuttner könnte man von der Daueranwesenheit von Krisen, Katastrophen und Konflikten sprechen, die unausweichlich erscheinen und uns überfordern.

Vielleicht ist es daher nicht verwunderlich, dass zu Beginn der Covid-19-Pandemie der Song »Itʼs The End Of The World As We Know It (And I Feel Fine)« der Band R.E.M. auf Platz 64 der iTunes-Single-Charts landete – nicht schlecht für ein Lied aus dem Jahr 1987!

soundtrack Doch leider beseht der Großteil des Soundtracks unserer Zeit nicht aus US-College Rock, sondern aus Lamentieren und Klagen über Wohlstands- und Privilegienverluste, Ungewissheiten und Zukunftsängste; aus dem einen Lautsprecher dröhnen Unmut und Empörung, warum uns die Dürre in Äthiopien und Somalia, die Bürgerkriege im Südsudan und im Jemen, der Ukraine-Krieg, die Proteste im Iran oder die massiven Einschränkungen von Frauenrechten in Afghanistan überhaupt etwas angehen sollten; aus dem anderen schallt es Viktimisierungen und Schuldzuweisungen, dass je nach eigener Positionierung die dementsprechend anderen verantwortlich seien für das ganze Schlamassel, in dem wir momentan stecken.

Wir beklagen das Ende der Welt, fühlen uns aber keineswegs gut dabei.

Es ist ein kakofoner Mix aus Frust, Perspektivlosigkeit, Resignation. Wir beklagen das Ende der Welt, fühlen uns aber keineswegs gut dabei. Und wenn wir das schon nicht tun, dann soll das gefälligst auch niemand anderes. Denn so weit reicht unsere Solidarität dann auch wieder nicht, wenngleich wir diese für uns selbst unermüdlich und vehement reklamieren.

Niemand hat behauptet, dass es einfach sei, eine Krise zu bewältigen. Von mehreren ganz zu schweigen. Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat diesbezüglich den Begriff der »Polykrise« geprägt, welcher besagt, dass unterschiedliche Krisenfaktoren – wie beispielsweise Umwelt und Krieg – durch ihr Zusammenwirken einander verstärken können.

erklärungsmodell Polykrise ist vielleicht ein rezentes Erklärungsmodell, beschreibt aber kein sonderlich neues Phänomen. Was uns derzeit offenbar so zu schaffen macht, ist jedoch die ununterbrochen auf uns einprasselnde Informationsflut, die uns aufgrund ihrer eindringlichen Unmittelbarkeit weder Zeit noch Raum lässt, Informationen entsprechend zu filtern, einzuordnen und zu verarbeiten.

Gesellschaftliche Resilienz drückt sich auch durch den Mut zu Veränderungen aus.

Bedingt durch medialen Stress sinkt aber nicht bloß unsere Aufmerksamkeitsspanne. Anstatt zu agieren, reagieren wir meistens nur. Und nicht selten begnügen wir uns damit, das Geschehene lediglich zu kommentieren, ohne einen Moment innezuhalten, um über das, was wir kommentieren oder liken, zu reflektieren. Denn die Reaktion muss schließlich in Echtzeit erfolgen, um der sogenannten Aufmerksamkeitsökonomie gerecht zu werden.

Aber Krisen dürfen nicht zu Objekten im Wettbewerb um mediale Aufmerksamkeit verkommen. Vielmehr bedürfen sie der Aufmerksamkeit, Konzentration und Reflexion, um eigene Resilienz aufzubauen und Handlungsperspektiven entwickeln zu können. Im Kontext Polykrisen bedeutet das, sich auch eingestehen zu können, dass man nicht allen Herausforderungen mit der gleichen Aufmerksamkeit begegnen kann, sich aber dennoch darum bemühen sollte, das eigene Bewusstsein für die anderen wachzuhalten.

zuhause In The Home We Built Together: Recreating Society (2009) konstatierte der 2020 verstorbene Rabbiner Lord Jonathan Sacks: »Die Gesellschaft gehört keinem von uns, sondern uns allen. Sie ist das Zuhause, das wir gemeinsam bauen.« In diesem Zuhause – der offenen Gesellschaft – treffen nicht nur unterschiedliche Sensibilitäten, Perspektiven und Erwartungshaltungen, sondern auch unterschiedliche Irritationen, Sorgen und Ängste aufeinander. Das erlaubt zugleich auch Zugriffe auf diverse Zugänge, um den verschiedenen Herausforderungen, vor denen wir stehen, entsprechend vielfältig zu begegnen.

Anstatt von einer Panik in die nächste zu verfallen, sollten wir uns auf Aushandlungsprozesse einlassen, Kompromisse wagen.

Anstatt von einer Panik in die nächste zu verfallen, sollten wir uns auf Aushandlungsprozesse einlassen, Kompromisse wagen, denn gesellschaftliche Resilienz drückt sich auch durch den Mut zur Selbstkritik und die Bereitschaft zu Veränderungen aus. Ein Zuhause zu bauen, ist kein Ergebnis, sondern ein Prozess.

Und vielleicht sollten wir mehr Mut zur Lücke wagen. Denn eine Gesellschaft darf sich nicht durch Ängste definieren oder blockieren lassen, will sie offen und frei sein.

lücken In dem 1979 erschienenen Roman Per Anhalter durch die Galaxis des britischen Science-Fiction-Autors Douglas Adams (1952–2001) ist der titelgebende Reiseführer das Konkurrenzprodukt zur renommierten »Encyclopedia Galactica«. Wenngleich der schmale Reiseführer vor Lücken nur so strotzt, erfreut er sich dennoch größerer Beliebtheit, weil er zwei Vorteile hat: »Erstens ist er ein bisschen billiger, und zweitens stehen auf seinem Umschlag in großen, freundlichen Buchstaben die Worte KEINE PANIK.«

Der britische Schriftsteller Arthur C. Clarke (1917–2008) bezeichnete »Don’t Panic!« als den vielleicht besten Ratschlag, den man der Menschheit geben könne. Vielleicht sollten wir uns das einfach immer wieder laut sagen.

Der Autor ist Professor für Jüdische Studien/Religionswissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

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