Essay

Keine falsche Toleranz

Ahmad Mansour Foto: imago

Manchmal sage ich, nicht nur, wenn ich öffentlich auftrete: »Ich spreche mit Ihnen als ein ehemaliger Antisemit.« Das sage ich gern, denn jemand wie ich kann von Kopf bis Fuß beweisen, dass das geht: Menschen können falsche Ideologien ablegen und sich Vernunft, Aufklärung und Empathie zuwenden.

Man könnte mir durchaus Naivität vorwerfen. Als ich 2004 als Student und arabischer Israeli aus Tel Aviv nach Deutschland kam, hatte ich geglaubt, hier würde mir kein Antisemitismus begegnen. Im Land der Täter, das seine Vergangenheit aufgearbeitet hatte, würde das Bewusstsein für Antisemitismus stark und der soziale Friede sicher sein.

Pandemie Doch in all den Jahren seither wurde mir klar: Antisemitismus ist eine Pandemie, gegen die der Spruch und Anspruch »Nie wieder!« allein kein wirksamer Impfstoff sein kann. Angriffe auf Juden in Deutschland nahmen zu. Sie tun es noch. Bisherige Konzepte der Erinnerungskultur und Sensibilisierung haben offenbar ihre Wirkung in der Gesellschaft verfehlt.

Bisherige Konzepte gegen Antisemitismus haben ihre Wirkung komplett verfehlt.

In Deutschland sind vor allem Symptome behandelt worden, quasi fiebersenkende Mittel. Ja, es gibt Gedenkstätten, Gedenkstunden, Stolpersteine, Publikationen, Zeitzeugenprogramme, Unterrichtseinheiten, Objektschutz für Synagogen oder andere jüdische Institutionen und staatliche Mittel für Respektprojekte. Trotz alledem kommt es immer häufiger zu antisemitischen Gewalt- und Straftaten.

Allein 2019 gab es laut Jahresbericht der politisch motivierten Kriminalität täglich rund fünf antisemitische Angriffe. Das ist nur das Hellfeld. Das Dunkelfeld ist viel größer. Hunderte, Tausende Taten, auch subtile Übergriffe, weisen darauf hin, dass Juden bei vielen in Deutschland nicht willkommen sind und sich nicht sicher fühlen können: Mobbing auf dem Schulhof, Bemerkungen auf der Straße wie im privaten Kreis, argwöhnische Blicke, Unterstellungen – toxische Stereotype. Sie sind noch und wieder da.

NAHOST Warum ist Deutschland mit seinen Konzepten gescheitert? Die Erinnerung an den Holocaust gehört, wie die Solidarität mit Israel, zur Staatsdoktrin der Bundesrepublik, dem Rechtsstaat, der 1949 gegründet wurde. Das ist großartig und richtig. Das Beschäftigen mit der Vergangenheit reicht allerdings nicht aus, um die Generationen der Gegenwart wachzurütteln. Der Fokus dabei liegt allzu oft auf der Schuldfrage. Aber es geht um mehr als das. Es geht um Verantwortung für die Zukunft.

Gerade den jüngeren Generationen muss dies vermittelt werden. An den Schulen müssen die Themen Antijudaismus, Antizionismus, Nahostkonflikt und antisemitische Stereotype bundesweit zum Curriculum gehören. Lehrer müssen darauf vorbereitet werden, kontroversen Themen nicht mehr aus dem Weg zu gehen, um sie in der Klasse sachlich und differenziert zu besprechen.

Migrationshintergrund Bisherige Konzepte verkennen die gewachsene Vielfalt in Deutschland. Das ist fatal, denn die multikulturelle Gesellschaft erfordert neue Zugänge bei der Bekämpfung des Antisemitismus. Menschen mit Migrationshintergrund haben oft eine vorgeprägte Meinung zum Nahostkonflikt. Sie können mit herkömmlichem Unterricht in Geschichte und Gesellschaftskunde meist wenig anfangen, solange der israelisch-palästinensische Konflikt darin kaum thematisiert wird. Privat unter der Schülerschaft geteilte Verschwörungstheorien gehen im Unterricht komplett unter.

Bereits in Integrationskursen muss damit angefangen werden, direkt, angstfrei, sachlich und differenziert über Fragen wie den Nahostkonflikt zu sprechen und parallel dazu zu vermitteln: Antisemitismus wird in Deutschland nicht toleriert, das Existenzrecht Israels ist nicht verhandelbar. Deutsche Geschichte hat hier im Land eine besondere historische Verantwortung. Wer hier leben will, für den ist das als Tatsache zu akzeptieren und beinhaltet die Pflicht, sich danach zu verhalten.

Die multikulturelle Gesellschaft erfordert neue Zugänge im Kampf gegen Judenhass.

Auf Demonstrationen gegen die Corona-Auflagen wird auf erschreckende Weise sichtbar: Hygienekonzepte der Bundesregierung werden nicht akzeptiert, solange Aussagen über dieses unsichtbare Virus widersprüchlich bleiben. Eine ähnliche Dissonanz offenbart sich bei Narrativen zu Juden und Israel. Die gut gemeinten Konzepte der Aufklärung werden nicht adäquat vermittelt. Hat ein Kind von Zuwanderern aus einer arabischen, pakistanischen oder türkischen Familie das stereotype Bild der »schwachen Juden« als Opfer der Schoa verinnerlicht und ruft auf dem Schulhof »Du Jude, du Opfer!« als Schimpfwort, dann kollidiert das mit dem Bild des starken Staates Israel, der robust seine Existenz verteidigt: »Wie kann das sein?«

HERKUNFT Auch solche kognitiven Dissonanzen zum Beispiel führen teils dazu, dass sich ohnehin vorhandene antisemitische Gefühle verstärken, und das auch bei Kindern deutscher Herkunft. Mit solchem Antisemitismus hatten Schulen in der Bundesrepublik früher kaum zu tun. Erfolgreiche Konzepte gegen Antisemitismus müssen beides zusammenbringen: die Geschichte der Juden als Opfer der Schoa – und die Realität des starken Staates Israel, eines demokratischen Rechtsstaats mit Konflikten und Widersprüchen. Mich erstaunt immer wieder, wenn Lehrer mir berichten, dass sie solche Themen bewusst aussparen, »um niemanden zu beleidigen, zu entfremden«. So kann es nicht bleiben. Da werden Riesenchancen verschenkt – und großen Gefahren nicht begegnet.

Demokraten, zumal in Deutschland, können nicht behaupten, es habe »mit der Vergangenheit nichts zu tun«, wenn heute Juden angegriffen werden. Solidarität aufgrund der Vergangenheit verpflichtet auch dazu, die sichere, angstfreie Gegenwart und Zukunft von Juden in Deutschland zu gewährleisten. Das verlangt mehr als eine gute, moralische Fassade, die zeigt, dass man aus der Geschichte gelernt hat. »Nie wieder!« schließt die Zusammenarbeit mit Antisemiten aus, wie es sie leider in radikalen islamischen Gruppen gibt. Denn das verhindert Gespräche über religiösen Antisemitismus. Radikale Akteure jeder Art sind keine geeigneten Partner staatlicher und schulischer Arbeit gegen Antisemitismus.

strafen Wer in Taten oder Worten die historische Verantwortung Deutschlands für jüdisches Leben ignoriert, für den muss es drastische und klare Konsequenzen geben, ganz gleich, welchen Hintergrund die Person hat. Antisemitische Taten sollten stets als Hasskriminalität eingestuft und entsprechend hart bestraft werden. Dafür gilt es, die Polizei gezielt zu schulen und zu sensibilisieren, was wiederum auch hilft, potenzielle Opfer verstärkt zu schützen.

Staat, Kirchen, Gesellschaft sollten über die gängige Symbolpolitik hinausgelangen. So gut und schön die Sonntagsreden und freundlichen Tweets sind, die Kerzen, die Jahr für Jahr zum Gedenken niederbrennen – all das bewirkt nicht annähernd genug. Wer wirklich Interesse daran hat, dass es ein lebendiges, angstfreies jüdisches Leben in Deutschland gibt, der muss im Alltag Begegnungen schaffen. Nur die Begegnung kann Brücken bauen, kann Vorurteile entkräften und auch Ängste gegenüber dem als Andersartigen Empfundenen abbauen.

Wer »Nie wieder!« sagt, darf nicht mit antisemitischen Islam-Gruppen kooperieren.

Es sollte allen klar sein, dass Antisemitismus kein Problem der Juden ist. Es ist ein Problem der Gesamtgesellschaft, und daher ist jeder Anschlag auf Juden ein Anschlag auf die Fundamente der Demokratie. Wo immer jüdische Menschen aufgrund ihres Jüdischseins angegriffen werden, ist das ein Symptom der Entgleisung einer Gesellschaft, einer latenten bis offenen Radikalisierung, das Resultat jahrzehntelang vermiedener Direktheit und Konsequenz im Umgang mit Antisemiten und anderen Rassisten.

Deutschland sollte nicht nur um die toten Juden trauern. Es sollte solidarisch sein mit den lebendigen Juden und Israelis, die das Recht haben, hier und heute angstfrei zu leben. Darum geht es. Und zuallererst gefordert sind Deutschlands Schulen.

Der Autor ist Psychologe und lebt in Berlin. Für sein Engagement erhielt der palästinensische Israeli unter anderem den Moses-Mendelssohn-Preis. Anfang Oktober erschien von ihm bei S. Fischer das Buch »Solidarisch sein! Gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass«.

Biografie

Schauspieler Berkel: In der Synagoge sind mir die Tränen geflossen 

Er ging in die Kirche und war Messdiener - erst spät kam sein Interesse für das Judentum, berichtet Schauspieler Christian Berkel

von Leticia Witte  11.07.2025

TV-Tipp

Der Mythos Jeff Bridges: Arte feiert den »Dude«

Der Weg zum Erfolg war für Jeff Bridges steinig - auch weil der Schauspieler sich gegen die Erfordernisse des Business sträubte, wie eine Arte-Doku zeigt. Bis er eine entscheidende Rolle bekam, die alles veränderte

von Manfred Riepe  11.07.2025

Thüringen

Yiddish Summer startet mit Open-Air-Konzert

Vergangenes Jahr nahmen rund 12.000 Menschen an den mehr als 100 Veranstaltungen teil

 11.07.2025

Musik

Nach Eklat: Hamburg, Stuttgart und Köln sagen Bob-Vylan-Auftritte ab

Nach dem Eklat bei einem britischen Festival mit israelfeindlichen und antisemitischen Aussagen sind mehrere geplante Auftritte des Punk-Duos Bob Vylan in Deutschland abgesagt worden

 10.07.2025

Agententhriller

Wie drei Juden James Bond formten

Ohne Harry Saltzman, Richard Maibaum und Lewis Gilbert wäre Agent 007 möglicherweise nie ins Kino gekommen

von Imanuel Marcus  12.07.2025 Aktualisiert

Kulturkolumne

Bilder, die bleiben

Rudi Weissensteins Foto-Archiv: Was die Druckwelle in Tel Aviv nicht zerstören konnte

von Laura Cazés  10.07.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus, Katrin Richter  10.07.2025

Ethik

Der Weg zum Glück

Nichts ist so flüchtig wie der Zustand großer Zufriedenheit. Doch es gibt Möglichkeiten, ihn trotzdem immer wieder zu erreichen – und Verhaltensweisen, die das Glück geradezu unmöglich machen

von Shimon Lang  10.07.2025

Essay

Das Jewish-Hollywood-Paradox

Viele Stars mit jüdischen Wurzeln fühlen sich unter Druck: Sie distanzieren sich nicht nur von Israel und seiner Regierung, sondern auch von ihrem Judentum. Wie konnte es so weit kommen?

von Jana Talke  10.07.2025