Psychologie

Keine Angst vor der Angst

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Können Sie angesichts des entsetzlichen Krieges in der Ukraine noch ruhig schlafen, oder fürchten Sie sich vor einer unkontrollierbaren Eskalationsspirale, die in einem Atomkrieg enden könnte? Wenn dem so ist, dann stehen Sie nicht allein da.

In Deutschland geht die Angst um. Der Krieg in der Ukraine hat die Lebensfreude und das Vertrauen in eine stabile Zukunft zutiefst erschüttert. So glaubt die Mehrheit der Bevölkerung, mit der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine würden die Risiken eines Atomkriegs steigen.

albträume Bürger und Bürgerinnen horten Lebensmittel und Medikamente, Schoa-Überlebende und Veteranen des Zweiten Weltkriegs werden von Albträumen heimgesucht, und bei Vertriebenen und ehemaligen Bundeswehrsoldaten werden seelische Wunden wieder aufgerissen.

Selbst in gewöhnlichen Zeiten sind Ängste stets präsent.

Nach den Geflüchteten aus dem Nahen Osten, der Corona-Pandemie und den sozialen Verwerfungen nun auch noch der barbarische Krieg Putins in der Ukraine. Tagsüber schaut man weg, abends sieht man der Nachrichtenflut hilflos zu, nachts lassen die grausamen Bilder einen nicht los. Ist die um sich greifende Angst normal, eher neurotisch oder gar paranoid?

Selbst in gewöhnlichen Zeiten sind Ängste stets präsent. Kinder ängstigen sich vor Fremden und Ungeheuern, Studenten vor Prüfungen, Rentner vor Armut und Antisemiten vor Juden. Angststörungen sind kein Randphänomen, sie betreffen hierzulande sehr viele Menschen. Die Wahrscheinlichkeit, eine Angststörung zu erleiden, liegt bei etwa 25 Prozent. Übertriebene Angst macht krank, raubt die Lebenslust und belastet die Lebensgestaltung. Wer ihr mittels Psychotherapie und Medikamenten Grenzen setzt, kann sie in die Schranken weisen.

risiken Angst ist zugleich eine kluge, überlebensnotwendige Emotion. Es heißt, Angst ist ein schlechter Ratgeber, aber ein guter Spion. Angst hilft nämlich, potenzielle Risiken zu erspähen und realen vorzubeugen. Nicht die Ängstlichen sterben zuerst, sondern all jene, die Warnsignale ignorieren, Gefahren kleinreden, das Leben geringschätzen. Nur rücksichts- und gewissenlose Menschen kennen keine Angst, nicht vor Gott, vor dem Krieg und vor Feinden.

So betrachtet, reicht im Judentum die Liebe zum Leben ins Grenzenlose. Wie kein anderes ist das jüdische Volk mit einer stattlichen, bisweilen neurotischen Portion an Besorgnis, Vorsicht und Ängstlichkeit ausgestattet. Nicht nur in Israel ziehen Juden es vor, lieber mit ihren Ängsten und Neurosen zu leben, als angstfrei und heldenmütig zu sterben.

Nur wer die Angst kennt und sie zu nutzen weiß, kann sie hinter sich lassen.

Nur wer die Angst kennt und sie zu nutzen weiß, kann sie hinter sich lassen und in die Zukunft blicken. Angst ist eine unerwünschte Vertraute, die seit Jahrtausenden das jüdische Volk heimsucht. Unaufhörlich droht sie damit, ihm die Flügel zu stutzen, nur um ihm welche zu verleihen.

lösungen Angst macht Beine, sie treibt Juden an, ihr davonzulaufen, um nicht zur Salzsäule zu erstarren. Angst rüttelt auf, macht wütend und mobilisiert ungeahnte Kräfte, um nicht in Ohnmacht und Resignation zu fallen. Angst beflügelt, die besten Lösungen zu finden, um zu überleben.

Bald wird es in Deutschland weder Kriegsverbrecher noch ihre Opfer geben. Gerade im Wissen um die schmerzhafte, nicht zu bewältigende Vergangenheit dürfen wir, die Nachkommen, nicht zu stummen Zeugen weiterer Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden. Der Frieden und die Freiheit, die die Alliierten dem deutschen Volk schenkten, fordern die Bundesregierung dazu auf, andere Staaten in die Lage zu versetzen, ihr Recht auf Freiheit und Demokratie auszuüben. Kiew darf nicht ein zweites Warschau werden.

Es heißt, Gott hält die Fäden in der Hand, doch der Mensch hat die freie Wahl, sie zusammenzuführen, zu durchschneiden oder zu verlieren. Aus der Wahlfreiheit erwächst die Verpflichtung, besonnen und moralisch zu handeln. So liegt es in der Verantwortung eines jeden, im Sinne von »Tikkun Olam«, sich zu vervollkommnen, um die Finsternis zu verdrängen und die Welt durch gute Taten zu verbessern.

hoffnung Die Offenheit, mit der die Geflüchteten aus der Ukraine empfangen werden, macht Hoffnung. Da kein Mensch als Zaddik geboren wurde noch als Gerechter vom Himmel gefallen ist, kann jeder und jede die Welt besser machen. Selbst der kleinste Beitrag hilft in diesen schwierigen Zeiten, das Leid der Geplagten und Verfolgten ein wenig zu lindern und ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu stärken.

Der 15-jährigen Anne Frank gelang es bis zu ihrer Deportation in das KZ Bergen-Belsen, den jüdischen Glauben an eine bessere Zukunft zu bewahren.

Der 15-jährigen Anne Frank gelang es bis zu ihrer Deportation in das KZ Bergen-Belsen, den jüdischen Glauben an eine bessere Zukunft zu bewahren. Am 14. Juli 1944, nur wenige Tage vor ihrer Verhaftung, trug sie in ihrem Tagebuch ein: »Ich sehe, wie die Welt allmählich in eine Wildnis verwandelt wird. Ich höre den nahenden Donner, der auch uns vernichten wird. Ich kann das Leiden von Millionen spüren. Und dennoch glaube ich, wenn ich zum Himmel blicke, dass alles in Ordnung gehen und auch diese Grausamkeit ein Ende finden wird. Dass wieder Ruhe und Frieden einkehren werden.«

Anneliese Marie Franks Wunsch ging für sie selbst nicht in Erfüllung, und auch für die Menschen in der Ukraine wird er sich nicht schnell bewahrheiten. Die Gewissheit jedoch, dass eines Tages in der Ukraine Freiheit und Demokratie einkehren werden, hält die Hoffnung am Leben. In Israel pflegen die Menschen trotz vieler Kriege, Selbstmordanschläge und Aufrufe des Iran sowie aus Gaza zur Zerstörung des jüdischen Staates zu sagen: Ihiye beseder – alles wird gut. Sie wissen, wovon sie sprechen. Hoffentlich.

Der Autor ist Psychologe. Er coacht Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur.

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