Barrie Kosky

Kafka und Muppet Show

Barrie Kosky, geboren 1967 in Melbourne, war seit 2012 Intendant der Komischen Oper Berlin. Foto: IMAGO/Future Image

Als »unbestrittener Liebling der Mutter«, so Sigmund Freud, behalte man fürs Leben jene Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten den wirklichen Erfolg nach sich zieht. Der Begründer der Psychoanalyse kannte Barrie Koskys Oma nicht, er hätte seine Erkenntnis sonst auf jiddische Großmütter erweitert.

Magda Loewy stand als jungem Mädchen des k. u. k. Bildungsbürgertums selbstverständlich ein Logenplatz im Budapester Opernhaus zur Verfügung. Vertrieben und in Melbourne gelandet, führte sie die Tradition in Australien fort, mit Enkel Barrie an ihrer Seite. Magda gründete eine sehr spezielle Loewy-Kosky-Opernuniversität.

baby-barrie Monate vor dem Opernabend erhielt Baby-Barrie (Selbstzitat) erst einmal die Schallplatte und dann das Libretto zum Studium. Es begann gleich anspruchsvoll mit Tristan und Isolde, Katja Kabanowa und Wozzeck, zwischendurch aufgelockert von Carmen, Tosca und Bohème. Vor der Vorstellung prüfte Magda Barries Wissen beim Mittagessen, in der Pause, und danach musste er alles einordnen.

200 Operninszenierungen lernte Kosky auf diese Weise bis zu seinem 18. Lebensjahr kennen. Wer weiß um eine passendere Regieweltstarjugend? Magda gab dem Enkel noch etwas Unvergleichliches mit auf den Weg: ihr herrliches, ungarisch gefärbtes Deutsch und ihr Jiddisch, das Kosky mit australischem Englisch mixte. In den Fluren der Komischen Oper Berlin, die Kosky, heute 55, seit 2012 als Intendant leitete, heißt diese höchst charmante Sprachmixtur »Koskytsch«.

Seine Sprache ist so einzigartig wie das Profil, mit dem Kosky das kleinste der drei Berliner Opernhäuser geprägt hat.

Seine Sprache ist so einzigartig wie das Profil, mit dem Kosky das kleinste der drei Berliner Opernhäuser geprägt hat. Eine Mischung aus Franz Kafka und der Muppet Show nennt er nicht nur seine Spielplanphilosophie, sondern das Leben überhaupt und die Oper in ihrem Chaos mit den täglichen Unwägbarkeiten sowieso. Kosky inszenierte Arnold Schönbergs Moses und Aron so tiefsinnig und dennoch unterhaltsam wie Paul Abrahams Ball im Savoy leichtfüßig, aber mit der richtigen kleinen Prise Schwermut.

Er machte Operette und Musicals salonfähig für die Moderne und legte die Wurzeln der Oper aus dem Barock mit seinem Monteverdi-Zyklus frei. Die Zeitschrift »Opernwelt« wählte die Komische Oper unter seiner Ägide zum Opernhaus des Jahres. Kosky ist besonders stolz auf seine dritte Spielzeit: Da präsentierte das gleiche Ensemble mit Chor und Orchester in einer einzigen Woche hintereinander Moses und Aron, West Side Story, Don Giovanni und eine Oper von Monteverdi.

TALMUDISCH Über allem schwebte immer ein talmudischer Geist des Fragens, denn Kosky ist fasziniert von der jüdischen Spiritualität und der Geschichte des Judentums. Auf jener Grundlage sind Wagners Meistersinger heute noch zu ertragen, Koskys Ausflug nach Bayreuth hat eine gültige Interpretation geschaffen, die Maßstab sein sollte für jede Neuinszenierung dieses besonders problematischen Wagnerstoffes.

Zum Schluss seiner Intendanz an der Komischen Oper Berlin hat Barrie Kosky dem Publikum und sich selbst ein Geschenk präsentiert, Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue. Sie soll absichtlich keine Erinnerung an die 20er- und frühen 30er-Jahre in Deutschland sein, bis die Nazis diese Kultur zerstörten.

Nach zehn Jahren präsentiert der Intendant dem Publikum eine Jiddisch-Revue.

Der Regiesuperstar aus Australien, mittlerweile in Deutschland eingebürgert, wollte mit seiner letzten Premiere an der Komischen Oper zeigen: Die Show dieser üppigen, witzigen, tiefsinnigen, melancholischen und internationalen jüdischen Kultur ist weitergegangen, nur an einem anderen Ort. In den Catskills bei New York, im Borschtbelt, jenen Hotels, wo Woody Allen und Bette Midler, Sammy Davis Jr. und Barbra Streisand ihre Karrieren begonnen haben. Und wo Jiddisch nicht nur Alltagssprache, sondern auch das Idiom der Songs und Chansons, der Couplets und der Schlager gewesen ist.

Aber funktioniert das überhaupt? Wenn Sängerinnen und Schauspieler Jiddisch singen, eine Sprache, die nicht die ihre und in Europa fast verschwunden ist? Klingt das nicht ein bisschen seltsam, vielleicht gar peinlich?

Nicht, wenn Barrie Kosky Regie führt. Anderthalb Jahre hat er mit dem Dirigenten und Pianisten Adam Benzwi Hunderte Songs gefunden. 21 schließlich haben sie ausgewählt, neu arrangiert, Otto Pichler hat die Show grandios choreografiert. Namen wie Mizzy Rubenstein, die Bagelman Sisters, Yossele Rosenblatt oder Hershel Baumann hörten viele von uns das erste Mal überhaupt.

RAUSCH Ein Rausch der 50er-Jahre-Kostüme von Pastell bis Plüsch, der Stimmen von Dagmar Manzel, Katharine Merling, Max Hopp und weiterer Stars, ein Rausch des Tanzes, des Humors, der Mixtur aus Jazz und Volksliedern, aus Rumba und Samba und eine leichte Melancholie überwältigen das Publikum. Sinatras »My Way« auf Jiddisch, »bey mir bistu sheyn«, »Trop’ns Fin Regen Oif Mein Kop« (Raindrops keep fallin’ on my head), alles Jiddisch, alles authentisch, alles fügt sich.Kosky verweist zum Schluss auf die Magie der Bühne, die keine Antworten weiß auf die Fragen des Lebens, aber die Sauerstoff ist für die Seele.

Ein krönender Abschluss einer großen Ära an der Komischen Oper Berlin. Barrie Kosky wird weiter am Haus inszenieren, er wird weiter in Berlin leben. Ein Dankeschön an ihn und an Magda Loewy sel. A. Großmutters Opernuniversität hat uns das Opernwunder Kosky geschenkt.

Zahl der Woche

85 Cent

Fun Facts und Wissenswertes

 03.12.2024

Aufgegabelt

Gemüsesuppe mit Maispoularde

Rezepte und Leckeres

 03.12.2024

Jubiläum

»Good Sex with Dr. Ruth« - Deutsches Exilarchiv feiert 75-jähriges Bestehen

Das Archiv sammelt die Schriften und Werke von Autoren, Illustratoren und Künstlern, die von den Nazis ins Exil getrieben wurden

 03.12.2024

Nachruf

Marshall Brickman: Vom Banjo-Spieler zum Regisseur

Die Liste der Drehbücher, die er mit Woody Allen schrieb, ist lang

 03.12.2024

Meinung

Die Universität Leipzig kuscht vor BDS-Anhängern

Die Absage eines Vortrags des Historikers Benny Morris legitimiert die Erpresserlogik israelfeindlicher Gruppen

von Chris Schinke  02.12.2024

Rezension

Unschöne neue Welt

Autokraten handeln vernetzt. Das macht sie umso gefährlicher, befindet Anne Applebaum in ihrem neuen Buch

von Ralf Balke  02.12.2024

Restitution

Massive Kritik an Gesetzentwurf zur Rückgabe von NS-Raubgut

Bei Sachverständigen ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Rückgabe von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut durchgefallen. Er sei ungeeignet. Deutschland falle damit bei der Restitution zurück

von Stefan Meetschen  02.12.2024

Berlin

Anne Frank Zentrum feiert 30. Jubiläum

Anlässlich seines 30-jährigen Bestehens lädt das Anne Frank Zentrum in Berlin am Wochenende in die Ausstellung »Alles über Anne« ein. Der Eintritt ist frei

von Stefan Meetschen  02.12.2024

Abgesagter Vortrag

Benny Morris nennt Rassismus-Vorwurf »absurd«

Die Universität Leipzig hatte einen Vortrag des israelischen Historikers mit Verweis auf »Sicherheitsbedenken« sowie Aussagen, die als »rassistisch gelesen werden können«, abgesagt

 02.12.2024