Pro & Contra

Ist Gender-Sprache eine Frage der Gerechtigkeit?

Jüd*innen, Jüdinnen und Juden oder Juden? Foto: Getty Images

PRO: Monty Ott meint: Bewusste Sprache stützt die Befreiung von Ideologien, die das Leben erschweren

Sprachvirus akademischer Eliten, Gender-Gaga, Neusprech wie in George Orwells Dystopie 1984 Gender-Diktatur: Mit Polemiken gegen gendergerechte Sprache lassen sich Bände füllen. Sie alle insinuieren, dass es einen Zwang gäbe, einen vermeintlichen Sprachpolizistinnen-Revolver auf der Brust.

Tatsächlich zeigen die schärfsten Gegnerinnen gendergerechter Sprache sehr deutlich, dass es ihnen weniger um grammatikalische Liebeleien oder romantische Gefühle für Sprachökonomie geht. In ihrer leidenschaftlichen Abwehr verbirgt sich zumeist etwas Tieferliegendes.

Eingriff Es ist nachvollziehbar, dass sich manche Menschen schwer damit tun, sich für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt zu sensibilisieren, oder dass ein solcher Eingriff in die Sprache als schwierig erscheint, sofern man sie noch nicht sicher beherrscht. Die akademische Auseinandersetzung ist erfüllt mit besonderen Begrifflichkeiten, und es geht auch um etwas sehr Persönliches. Schließlich verlangen diese Überlegungen, die eigene Identität zu hinterfragen. Die Sprache erinnert uns mit jedem Satz daran, dass unsere Realität komplex ist.

Unsere Sprache ist immer im Fluss, nicht starr, sondern beweglich. Sie war vor 100 Jahren nicht »natürlicher« als heute. Wie Sasha Marianna Salzmann sagt: Die Sprache »ist unser aller Spiegel, sie zeigt, wer wir sein wollen und wie wir zueinander stehen«. Damit zeigt sie auch, wie wir uns verändern. Indem wir Gesagtes reflektieren, bleiben wir wach und verwenden Sprache bewusst.

gesellschaft Weil wir immer wieder erfahren haben, wie jüdisches Leben an den Rand der Gesellschaft gedrückt wird, sollten wir auf Sensibilität gegenüber Diversität im Allgemeinen Wert legen – diese drückt sich zum Beispiel durch gendergerechte Sprache aus. Dabei können wir aus einer jüdischen Position für einen sensiblen und bewussten Gebrauch von Sprache streiten! Schon Sigmund Freud bemerkte, dass Worte »unsagbar wohltun und fürchterliche Verletzungen zufügen« können. Auch Hannah Arendt erklärte, dass wir uns durch Sprechen und Handeln »in die Welt« einschalten, dadurch Verantwortung auf uns nehmen.

Diese Verantwortung wurzelt in unseren Quellen. Im Talmudtraktat Baba Kamma erklären unsere Weisen: »Wie es eine Übervorteilung bei Kauf und Verkauf gibt, so gibt es auch eine Kränkung durch Worte.« Natürlich kommt es immer wieder vor, dass homo-, bi- und transfeindliche Aussagen auch mit den jüdischen Quellen gerechtfertigt werden.

»Bewusste Sprache ist das Mittel, ›Leiden beredt werden zu lassen‹, was gerade im Angesicht antisemitischer Übergriffe unabdingbar ist.«

Monty Ott

Der britische Oberrabbiner Ephraim Mirvis bezeichnet ein solches Vorgehen als Chilul Haschem, weil die Mizwa »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (3. Buch Mose 19,18) nach Rabbi Akiva als das wichtigste Prinzip der Tora angesehen werden sollte. In der Sprache steckt ein enormes Potenzial, das wir verdrängen. Diese Kraft wird in unseren Quellen immer wieder herausgestellt: »Tod und Leben sind in der Macht der Zunge« (Mischle – Sprüche 18,21). Wir erleben, wie Sprache verroht, wie sie genutzt wird, um auszugrenzen, wie die Grenzen des Sagbaren stetig erweitert werden. Wer Sprache für neutral hält, ist demgegenüber wehrlos.

Kontinuität Eine bewusste Sprache ist die beste Verteidigung. Sie ist das Mittel, »Leiden beredt werden zu lassen« (Adorno), was gerade im Angesicht antisemitischer Übergriffe unabdingbar ist. Und mehr noch: Sprache ist der Faden jüdischer Kontinuität. Wer diese erfahren will, so Amos Oz und Fania Oz-Salzberger in ihrem Buch Juden und Worte, der oder die muss nur lesen.

Man könnte bewusste Sprache als das Prinzip jüdischen Seins bezeichnen, denn sie war auch immer das Mittel der Befreiung! Heute könnte sie Stütze bei der Befreiung von Ideologien sein, die uns das Leben schwermachen. Aus Unsicherheit sollte diese Chance nicht vertan, sondern mit Empathie und Verständnis begleitet werden, da dieser Weg mit Arbeit und stetiger Reflektion gepflastert ist.

Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik hält diese Gedanken in seinem Buch Redemption, Prayer, Talmud Torah fest: »Wenn ein Volk eine stumme Welt verlässt und in eine Welt des Klangs, der Sprache und des Gesangs eintritt, wird es zu einem erlösten Volk, einem freien Volk.«

Herz Der freie Mensch nutzt dieses flexible Werkzeug, um seine Botschaft jedem und jeder zu vermitteln, die: der zuhören möchte. Jede und jeder kann sich dafür entscheiden, Ohren und Herz zu verschließen. Aber wir können uns auch öffnen und dafür bereit sein, die Welt so wahrzunehmen, wie sie ist: manchmal komplex, aber immer unglaublich farbenfroh.

Gender- beziehungsweise diversity-gerechte Sprache ist also nicht nur eine Frage von »kavod« (Respekt), denn letztlich geht es grundsätzlich darum, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Wir haben die Chance, diesen Wunsch nach einer Gesellschaft, in der man »ohne Angst verschieden sein« (Adorno) kann, mit jedem Satz auszudrücken. Ich denke, dass wir diesen Weg gehen sollten, jeder und jede in seinem und ihrem Tempo, aber gemeinsam!

Monty Ott ist Vorsitzender von Keshet e.V. und promoviert derzeit zu LGBTIQ-jüdischer Identität in Deutschland.


CONTRA: Ingo Way findet: Sprache gehört allen, nicht nur einigen Aktivisten. Sie verändert sich, aber nicht auf Zuruf

Vor etlichen Jahren erschien die Bibel in gerechter Sprache, ein Projekt christlicher Theologen, in der von »Jüngerinnen und Jüngern« und von »Pharisäerinnen und Pharisäern« die Rede ist und selbst Gott nicht mehr der Herr sein darf, sondern zum Beispiel als »ErSie« bezeichnet wird. Das erntete damals den verdienten Spott.

Seinerzeit wusste man eben noch, dass Sprache weder gerecht noch ungerecht ist, sondern ein bloßes Zeichensystem, das es den Sprechern erlaubt, sich über jeden beliebigen Inhalt auszutauschen. Ein unschöner Sachverhalt wird nicht dadurch schöner, dass man die Sprache verhübscht, ein erfreulicher nicht weniger erfreulich, wenn einem die entsprechende Bezeichnung aus irgendeinem Grund nicht gefällt.

Reden Inzwischen hört man in Politikerreden, wenn es um jüdisches Leben oder die Bedrohung durch Antisemitismus geht, auch immer öfter die Formulierung »Jüdinnen und Juden«, als würde das die Situation jüdischer Bürger in Deutschland spürbar verbessern. »Jüdinnen- und Judentum« hat sich bisher noch nicht durchgesetzt, und wenn von Judenfeindschaft die Rede ist, kommt niemand auf die Idee, jüdische Frauen seien vom Hass der Antisemiten auf wundersame Weise ausgenommen.

»Die Situation jüdischer Bürger in Deutschland wird durch die Formulierung ›Jüdinnen und Juden‹ nicht spürbar verbessert.«

Ingo Way

Es führt in die Irre, Wörtern geheimnisvolle intrinsische Eigenschaften zuzuschreiben, die ihre »eigentliche« Bedeutung offenbaren würden. Wörter bedeuten genau das, was eine Sprachgemeinschaft unter ihnen versteht. Wenn der Plural »Juden« seit Jahrhunderten so gebraucht wird, dass er sämtliche Menschen umfasst, die dem Judentum angehören, unabhängig von ihrem Geschlecht oder sonstigen Eigenschaften, dann bedeutet er eben genau das. Nicht mehr und nicht weniger.

Häufig hört man das Argument, Sprache ändere sich ja ohnehin ständig. Selbstverständlich sprechen wir heute nicht mehr so wie zu Zeiten von Goethe, Heine oder Walther von der Vogelweide. Auch ist es nicht bedauerlich, dass man Schwarze heute nicht mehr als »Neger« bezeichnet und unverheiratete Frauen nicht mehr als »Fräulein« anspricht – das reflektiert veränderte Wertvorstellungen in der Gesellschaft, die sich dann natürlich auch in der Sprache niederschlagen.

Unterschied Aber es ist eben ein Unterschied, ob sich Sprache im alltäglichen Gebrauch – idealerweise unter dem subtilen Einfluss von Vorbildern wie Schriftstellern und Journalisten, die ihr Material beherrschen – allmählich verändert, oder ob sie – »top down« – durch aufdringliche Wortneuschöpfungen oder Regelungen in Redaktionen oder im Behördenschriftverkehr wenig behutsam geändert wird, in der Erwartung, dass sich von nun an jeder an die neuen Regeln hält, will er nicht als hoffnungslos ewiggestrig wahrgenommen werden.

Versuche, Sprache per Verordnung zu ändern, gab es immer schon – von den Sprachpuristen des 19. Jahrhunderts, die das Nonnenkloster durch den Jungfernzwinger und die Pistole durch den Meuchelpuffer ersetzen wollten, über die Verfechter einer radikalen Kleinschreibung bis zur Rechtschreibreform von 1996, deren schlimmste Exzesse durch den Einspruch von Sprachwissenschaftlern und Schriftstellern verhindert werden konnten. Immer liegt diesen Bestrebungen ein Erziehungsgedanke zugrunde: der Masse der Sprecher muss erst beigebracht werden, wie sie ihre Sprache richtig zu verwenden hat.

Exempel Dabei glauben die heutigen Sprachaktivisten an ihre eigenen Theorien nicht einmal selbst. Man muss nur einmal die Probe aufs Exempel machen: In kaum einem Text, in dem von »Bürgerinnen und Bürgern«, »Einwanderinnen und Einwanderern«, »Polizistinnen und Polizisten« die Rede ist, wird das Gendern konsequent durchgehalten.

Spätestens im dritten oder vierten Absatz stellt sich beim Autor Erschöpfung ein, und er fällt wieder auf den üblichen, jedermann verständlichen Sprachgebrauch zurück und schreibt von »Bürgern«, »Einwanderern« und »Polizisten«, ohne dass irgendein Leser nun den Eindruck hätte, da sei ausschließlich von Männern die Rede. Allenfalls wird sich in der Mitte oder gegen Ende des Textes noch einmal dazu aufgerafft, auch die grammatisch weibliche Form wieder mit zu erwähnen, das wirkt dann aber eher wie eine lästige Pflichtübung. Den Charakter des Angestrengten können derlei Texte nie verleugnen.

Gedersternchen Auch die Verwendung von Gendersternchen, Binnen-Is oder sonstiger »gendergerechter« Markierungen wirkt demonstrativ und auftrumpfend; es stört den Lesefluss, ohne irgendeine Information hinzuzufügen. Derlei typografische Stolperfallen entsprechen auch nicht dem Wunsch der überwältigenden Mehrheit der Leser, für die all diese Texte schließlich produziert werden und die in ihrem privaten Schriftverkehr – ganz unabhängig von ihrem Bildungsstand – niemals »gendern« würden.

Sprache gehört allen, nicht nur einigen Aktivisten, die sie als Werkzeug zur Durchsetzung ihrer gesellschaftlichen Wunschvorstellungen benutzen und erwarten, dass die Allgemeinheit der Sprecher ihnen in ihrem neuen Sprachgebrauch folgt. Sprache verändert sich. Aber eben nicht auf Zuruf.

Ingo Way ist Redakteur für Israel, Kultur und Wissen der Jüdischen Allgemeinen.

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