Auszeichnung

»Ist die Schonzeit vorbei?«

Rachel Salamander bei der Preisverleihung in Düsseldorf Foto: picture alliance/dpa

Als ich 1982 nach meinem Studium die Literaturhandlung in München gründete, stellte ich mir die Aufgabe, nach der »Entjudung« des deutschen Buchhandels die geistige jüdische Welt zu rekonstruieren, sofern sie sich im Wort und in der Schrift erhalten hatte. Ich wollte all jene wieder einbürgern, die von den Nazis vertrieben oder verbrannt worden waren. Ihnen galt es wieder ein Menschenrecht, eine Bleibe zu geben.

Doch eine Frage plagte mich gleich zu Beginn: Darf ich, was die Nazis perfekter konnten, alles sammeln und katalogisieren, zuletzt also konzentrieren, was jüdisch ist? Ob diese Schriftsteller im Judentum geblieben sind oder nicht, für mich kristallisierte sich eines heraus: Die jüdische Perspektive musste hervorheben, was ih­re Literatur prägte, nämlich dass für ihr Schaffen ihre jüdische Existenz in einer nichtjüdischen Umwelt produktiv wurde.

GHETTO Die Frage flammte wieder auf, als ich Marcel Reich-Ranicki zu einem Vortrag »Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur« einlud und mir umgehend eine Absage einhandelte. Sein Unbehagen gipfelte in dem Ausruf: »Ich lasse mich doch nicht wieder ins Ghetto sperren!« Zur Information: Reich-Ranicki kam, und er kam immer wieder. Mit diesen Schriftstellern hat auch er selbst sich hier wieder eingebürgert.

Will man also diese Schriftsteller wieder beheimaten, so muss man ihnen ihre Geschichte zurückgeben. Heine aus der jüdischen Perspektive heimzuholen, kann gerade nicht in erster Linie das universalistische Prinzip betonen, sondern muss zeigen, worunter jeder Jude leiden musste, weil er Jude war. Ein religiöser Jude war Heine nicht. Man kann – bis heute – nicht den Beitrag der berühmten Juden besingen und ihr Leiden am Judenhass auslassen. Scharfer Kritiker aller Religionen, der er war, verschonte er das Judentum beziehungsweise einzelne seiner Vertreter auch nicht. Andere assimilierte Juden wagten das nicht.

Heine steht in der jüdischen Geschichte, ob er es wollte oder nicht. Er erlebte und reflektierte, was Juden seit jeher erlebten: Duldung, Anfeindungen, Vertreibung, Exil, Wiederansiedlung, Pogrom, Vernichtung. Heine wurde Zeuge, wie Hand in Hand mit der Emanzipation und versuchter Assimilation Antisemitismus sich verbreitete – und wie mit jedem Modernisierungsschub der Judenhass wuchs.

Hannah Arendt zitiert mehrfach den russisch-jüdischen Autor und Dichter Judah Leib Gordon, dessen Formel sie als Motto über die gesamte westeuropäische Assimilation stellt: »Sei ein Jude zu Hause und ein Mensch in der Welt.« Judentum sollte im Verborgenen stattfinden. Hannah Arendt übrigens hat die Formel umgedreht und forderte: »Sei ein Mensch zu Hause und ein Jude in der Welt.« Das heißt, Juden müssen sichtbar bleiben.

Sie sehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wenn wir über längst Vergangenes reden, wir sind im Jetzt angekommen. Kippa tragende Juden sind erkennbar und werden wie jüdische Einrichtungen angegriffen. Der Staat ist herausgefordert in seiner Pflicht, seine Bürger zu schützen und Juden in ihrem Menschenrecht, Juden sein zu dürfen.

AUSGRENZUNG Heine gehörte zur ersten Generation, die das Ghetto verließ. Im Mittelalter sollte der Jude durch Zwangstaufe verschwinden, und weil man den Getauften schon damals nicht traute, landeten sie auf dem Scheiterhaufen der Inquisition. Immer wieder endeten Annäherungsversuche wenn nicht tödlich, so doch mit Ausgrenzung der Juden. Wir kennen Heines Lehre aus der Geschichte in der Tragödie Almansor (1823): »Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher/verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.«

Einhundert Jahre später sollte Deutschland, Europa dann »endlich« judenrein werden. Dazu, so viele Jahre zuvor, der klarsichtige Heine, und es ist unheimlich, was er schon 1823 prognostiziert: »Wenn ihr es krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst: der deutsche Donner hat endlich ein Ziel erreicht. (…) Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.«

Heinrich Heine steht für die Geburtsstunde der deutsch-jüdischen Literatur.

Hannah Arendt attestiert Heinrich Heine, dass er der einzige deutsche Jude sei, dem geglückt ist, zugleich Deutscher und Jude zu sein. »Er ist das einzige große Beispiel geglückter Assimilation, das die gesamte Geschichte der Assimilation aufzuweisen hat.« An Heine zeigt sich die jüdische Geschichte, und Heine zeigt jüdische Geschichte – nicht nur mit jüdischen Figuren und Motiven, sondern auch mit vielen inhaltlichen Bezügen auf die jüdische Geschichte. Gerade in der Zeit, als er herbe Rückschläge hinnehmen musste, beschäftigte er sich mit jüdischen Stoffen.

1824 begann er in Göttingen mit dem Rabbi von Bacherach, einer Erzählung im mittelalterlichen Bacherach. Die Juden begehen gerade ihr Pessachfest. Beim bibelfesten Heine endet es mit einem durch eine Ritualmordbeschuldigung ausgelösten Pogrom tödlich. Ganz untypisch für die jüdische Geschichte rettet sich der Rabbi mit seiner Frau ins Frankfurter Ghetto, während seine von ihm im Stich gelassene Gemeinde getötet wird. Für den Rabbi bleibt nur das Ghetto als Zufluchtsort.

Diesen Text veröffentlichte Heine erst viel später, 1840, und zwar im Jahr des Damaskus-Pogroms. Mehrere Fäden der jüdischen Geschichte verwebt Heine hier meisterlich: die Frankfurter Pogrome von 1240 und 1349 mit den Bedrängnissen seiner Zeit. Als der Rabbi am Ghettotor um Einlass bittet, ruft er sechsmal aus: »Ich bin ein einzelner Mensch.« Offensichtlich ist die Aussicht, als Einzelner eingelassen zu werden, größer als mit seinem Kollektiv. Der Türsteher will ihm Schutz nur gewähren, wenn der Rabbi sich taufen lässt. Die Sekundärliteratur rätselte über Heines untypischen Rabbi, Jakob Hessing gibt in seinem Heine-Buch eine plausible Interpretation: Heines Taufe »ist ein Schritt, der ihn immer mit Unbehagen erfüllen wird und den er Eduard Gans, dem Vorsitzenden des Culturvereins, nie verzeihen wird.«

Heine wagte viel: Nicht nur konfrontiert er ein deutsches Publikum mit genuin jüdischen Stoffen, er teilt auch gegen seine eigenen Glaubensgenossen aus. Diese innerjüdische Kritik grenzt ihn auch innerhalb der Seinigen aus.

SCHABBAT Man braucht sich nur vergegenwärtigen, wie ängstlich assimilierte Juden jedes jüdische Wort vor Nichtjuden vermieden, um ermessen zu können, was es hieß, wenn Heine fröhlich parodierte: »Schalet, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium«. Die köstliche Eintopfspeise Schalet, »Schalet (…) des wahren Gottes koscheres Ambrosia«, wie Heine dichtet, ist das Schabbatgericht schlechthin. Mit weiteren traditionellen Schabbatingredienzen lässt Heine eine der schönsten Schabbatidyllen in einem deutschen Text entstehen, jedoch, wie für Heine typisch, eine nur von kurzer Dauer. Schalet ja, Religion nein. Deswegen können Riten und Gebräuche nicht ungebrochen praktiziert werden. Was Heine nicht mehr lebte, literarisierte er. Viele nach ihm werden so verfahren. Von Heine begonnen, setzt sich diese Linie bis heute fort.

Als Anfang der 80er-Jahre eine Welle publizistischer und kultureller Aktivitäten der Zweiten Generation einsetzt, schlagen eine ganze Reihe jüdischer Autoren ein neues Kapitel der deutsch-jüdischen Literatur auf, etwa Robert Schindel oder Maxim Biller, um nur zwei zu nennen. Sie schreiben auf Deutsch und stehen nach dem Holocaust erst recht im Spannungsverhältnis zu ihrer nichtjüdischen Umwelt. Mit Heine teilen sie auch die Distanz zum praktizierenden Judentum. Ihre Texte bewahren es virtuell.

BILLER Maxim Biller sehe ich in Heines Tradition. Er schreibt auf Deutsch, mit vielen jiddischen Einsprengseln, für ein nichtjüdisches Publikum. Es sind Texte eines Juden über Jüdisches und jüdische Erfahrungen. In der von Nichtjuden geschriebenen Literatur nach 1945 kommen Juden so gut wie nicht vor. Biller schreibt, was Juden nach dem Holocaust hierzulande geschieht, über das Nachleben des Holocaust. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, bricht mit innerjüdischen Tabus genauso wie mit deutschem Aufarbeitungskitsch.

Heine steht für die Geburtsstunde der deutsch-jüdischen Literatur. Als ich mit der Literaturhandlung begann, hatte ich mir vorgenommen, der mit den Menschen vernichteten jüdischen Kultur ein neues Fundament zu legen. Die Welt unserer Eltern – sie war zerstört. Wo anschließen? Der Aderlass der Schoa hinterließ eine absolute Leere.

Was sehe ich nicht, was der klarsichtige Heine ahnte und was Spätere sehen werden?

Auf diese Leerstelle hat meine Generation reagiert. Jüdische Museen entstanden, Lehrstühle für jüdische Geschichte und Kultur, jüdische Schulen, die Gemeinden begannen, Infrastrukturen aufzubauen. Die jüdischen Schriftsteller deutscher Sprache besetzten die Leerstelle, indem sie lebendige Juden und ihre Probleme in die Literatur einführten. Wir Nachgeborenen suchten in der uns fremden christlichen Mehrheitsgesellschaft nach eigenen jüdischen Wurzeln und wollten uns »eine Wiedereroberung des Judentums aus dem Nichts erschreiben«, wie Barbara Honigmann sagt.

VATERLAND Ohne Bücher kein Judentum, ohne sie eine leere Tradition und machtlose Kultur. Für Heine bedeutete die Bibel, die die Juden seit dem »großen Brande des zweiten Tempels gerettet« und das ganze Mittelalter hindurch in ihrem Ghetto wie einen Schatz verborgen hielten, Heimatersatz, »im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland«. Er konnte auf die von Moses Mendelssohn erstmals vollständig ins Hochdeutsche übersetzte Bibel zurückgreifen, mit der die nächste, das Ghetto hinter sich lassende Generation Deutsch lernte und somit den Schritt in die deutsche Gesellschaft anbahnte. Wir wuchsen ohne Bibliotheken, ohne Bücher auf. Unserer zweiten Generation war es vorbehalten, jüdisches Wissen einzusammeln, wollten wir den Neubeginn einer jüdischen Kultur.

Wo stehen wir heute? Hoffentlich nicht da, wo wir nach lebenslangem Einsatz wieder sagen müssten: »Alles vergebens.« Oder wie der nichtjüdische Mitstreiter der Juden gegen Treitschke, Theodor Mommsen, Mitbegründer des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, 1894 formulierte: »Es ist alles umsonst.« Wir lesen Heine und merken, dass seine Erfahrungen auch uns betreffen, er steht nicht nur als Kulturgut im Regal.

AUSCHWITZ Nie hätte ich mir 1970 vorstellen können, ein Deutschland mit täglichem Antisemitismus erleben zu müssen. Ich hatte Glück, so lange in einem Deutschland aufzuwachsen und zu leben, in dem ich mich als Jüdin frei entfalten konnte, in einem der besten Deutschlands seiner Geschichte. Wir Juden wurden geschont – wegen Auschwitz und dem Nachkriegsimperativ des Nie-Wieder. Ist die Schonzeit vorbei? Uns, der glücklichen Postholocaustgeneration, garantiert eine Verfassung, ungeachtet der heterogenen Herkünfte ihrer Bürger, die Menschen- und Grundrechte. Der deutsche Staat schützt Juden. Das war nicht immer so. Und es muss auch nicht so bleiben, wie wir wissen.

Vor nicht langer Zeit noch war klar, was Antisemitismus ist. Heute herrscht Streit darüber. Nach Auschwitz ist der Antisemitismus ein anderer als zu Heines Zeiten. Jetzt trägt Antisemitismus immer auch Vernichtung in sich. In den Achtzigern, als ich anfing, waren die Nachkriegsdeutschen deswegen befangen. Heute sind wir Juden befangen. Wir sind in der Defensive. Nie hätte ich gedacht, dass mir solches passiert. Sozusagen viel belesen in der Geschichte der Zerstörung und Verfolgung bin ich offensichtlich zu gutgläubig gewesen – und zu lange geblieben. Was sehe ich nicht, was der klarsichtige Heine ahnte und was Spätere sehen werden?

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